GASTBEITRAG: Swedenborgs Einfluss auf die Osteopathie


Zusammenfassung

Wie die aktuelle Osteopathiegeschichte jetzt enthüllt, hat der schwedische Wissenschaftler und Philosoph Emanuel Swedenborg mit seinen ins Englische übertragenen Schriften Economy of the Animal Kingdom, On Tremulation und The Brain offensichtlich nachhaltigen Eindruck auf die Gründerväter der Osteopathie, allen voran A.T. Still und W.G. Sutherland gemacht. Um die Konzepte Swedenborgs zu verdeutlichen, wird im Artikel von Fuller eine im ursprünglichen Artikel nicht vorhandene Passage über Swedenborgs Menschenbild eingefügt.

David B. Fuller, DO, FAAO ist ein praktizierender Osteopath mit langjährigem Interesse an der Philosophie der Osteopathie. Als Privatdozent am Philadelphia College of Osteopathic Medicine unterrichtet er die Fächer neuromuskuläres System, Osteopathische Techniken, Allgemeinmedizin und integrative holistische Medizin. David B. Fuller ist Ehrenmitglied der American Academy of Osteopathy, deren Mitglieder sich der Lehre und Weitergabe der holistisch ausgerichteten klassischen osteopathischen Medizinphilosophie verschrieben haben.


Swedenborgs Menschenbild

Nach Swedenborg gibt es eine himmlische und eine irdische Sphäre, in denen jeweils eine Sonne scheint: In der irdischen Sphäre die uns bekannte Sonne, in der himmlischen Sphäre eine, die stellvertretend für Gott steht und mit ihrem Licht (= Weisheit) und ihrer Wärme (= Liebe) beide Sphären und alles in ihnen vollständig begründet und durchdringt. Die himmlische Sphäre ist von Engeln und den Seelen Verstorbener als deren Vorläufer bevölkert. Beide Sphären bedingen sich in Entsprechungen und stehen damit in unmittelbarer Wechselwirkung. Der irdische Mensch entsteht durch das Einfließen einer himmlischen Wesenheit (Seele) in eine irdische Entität (Körper), wobei aus der Vereinigung das Leben bzw. die Lebenskraft entspringt. Die Lebenskraft ist voller Weisheit, Intelligenz und schöpferischer Macht und ist allein verantwortlich für sämtliche Lebensprozesse, wie z.B. die Ausformung und Heilung des Körpers, Bewegung, Verstand. Ein tieferes Verständnis v.a. der himmlischen Sphäre ist nur durch intensives Studium der Anatomie, allen voran des Nervensystems, möglich.


1. Osteopathische Paradigmen

Der amerikanische Landarzt A.T. Still (1828-1917) stellte die Osteopathie als ihr Begründer auf ein grundsolides philosophisches und zugleich praxisnahes Fundament, in dessen Zentrum er das Studium der Anatomie stellte. Die Philosophie der Osteopathie fußt auf folgenden Grundannahmen: Sie geht von einem Grundprinzip des Lebens als treibende Kraft des Körpers aus, von einer Verbindung zwischen Körper, Verstand und Geist, (1) und sie geht zudem davon aus, dass der menschliche Körper mehr ist als nur eine Maschine und ihm eine inhärente Weisheit eigen ist und er außerdem über Fähigkeit zur Selbstheilung verfügt. Die überragende Bedeutung des ausführlichen Anatomiestudiums umfasste seiner Ansicht nach auch das tiefere Verständnis von den Körperflüssigkeiten und ihren Kreisläufen sowie von den Faszien, von Struktur und Funktion und von der neuronalen Versorgung im funktionellen Kontext.

Stills osteopathische Philosophie und Praxis wurde durch W.G. Sutherland (1873-1954) erweitert. Dieser begründete die Kraniale Osteopathie und fügte den osteopathischen Paradigmen (2) fünf weitere Aspekte des Primären Respiratorischen Mechanismus hinzu. Der letztere sei, so beschreibt Sutherland, angetrieben durch den Atem des Lebens, eine metaphysische Entität, die in etwa Stills Grundprinzip des Lebens entspricht. (3)

Der osteopathischen Welt sind diese Überlegungen wohl vertraut und sie spielen in der heutigen osteopathischen Medizin eine tragende Rolle. (4) Weniger bekannt ist jedoch die Tatsache, dass sowohl Still als auch Sutherland durch die Ideen des Philosophen, Naturwissenschaftlers und Theologen Emanuel Swedenborg (1688-1772) nachhaltig beeinflusst wurden. Am Beispiel der Beseelung bzw. Belebung des Körpers durch das Grundprinzip des Lebens soll dies kurz veranschaulicht werden.


2. Swedenborg

Swedenborg war ein brillanter, pragmatischer und außergewöhnlich produktiver schwedischer Philosoph und Naturwissenschaftler, der sich an der Spitze der europäischen Wissenschaftselite des 18. Jahrhunderts befand. Während seiner umfassenden Studien versuchte er stets, die Naturwissenschaft und die geistige Ebene zu vereinen, was ihn schließlich zur Theologie führen sollte. (1)


2.1. Naturwissenschaftliche Studien

Während seiner wissenschaftlichen Studien interessierte er sich vorrangig dafür, den Sitz der Seele im Körper ausfindig zu machen. Dazu beschäftigte er sich eingehend mit dem gesamten zu jener Zeit verfügbaren anatomischen Wissen und hier allen voran mit dem Gehirn und seiner funktionellen Bedeutung für den Körper. Daraus gestaltete er einzigartige Ideen und Paradigmen, die unverkennbar seine Handschrift tragen. (5) Swedenborg entwickelte beispielsweise ein auf Anatomie basierendes Paradigma in Bezug auf die organische Wechselwirkung zwischen Körper und Seele. Darin enthalten waren Aspekte, wie etwa die metaphysisch animierte Bewegung des Gehirns oder das Ausströmen einer feinsten ätherischen Essenz aus dem Cortex in das Nervensystem bzw. ihre neurofaszialen Verbindungen. Auf diese Weise, so seine Ausführungen, wird der gesamte übrige Körper integriert, mit Energie versorgt und alle physischen und metaphysischen Aspekte in eine organisch-rhythmische Einheit aus Körper, Verstand und Geist vereinigt. Obwohl er seine Ideen stets mit minutiösen Beschreibungen anatomischer Details begründet, finden sich keinerlei therapeutische Schlussfolgerungen oder Behandlungsansätze in seinen Schriften. (14)


2.2. Theologische Studien

Gegen Ende seiner anatomischen Studien geriet Swedenborg in den 1740ern in eine spirituelle Krise. Sukzessive stellte er in den Folgejahren seine naturwissenschaftlichen Untersuchungen ein und widmete sich die restlichen drei Jahrzehnte seines Lebens ausschließlich theologischen Forschungen, wobei diese aber stark von den Ergebnissen seiner vorangegangenen Studien geprägt waren. Sein daraus resultierendes neues Religionsverständnis beinhaltet völlig neue Deutungen zu Aspekten wie: Beziehung zwischen spirituellen und natürlichen Realitäten, das universelle Gesetz der Lenkung der Schöpfung durch Gott, Leben nach dem Tod, spirituelles Wachstum, die Möglichkeit einer individuellen Ewigkeit, eine detaillierte Beschreibung von Seele, Verstand und Körper als organisch interagierende Einheit, die als Mikrokosmos einem größeren Makrokosmos dient. (2) Swedenborg schrieb sehr ausführlich über seine anatomischen, philosophischen und spirituellen Ideen. Nach seinem Tod 1772 fanden vor allem Letztere im europäischen Raum in Form von Seancen, d.h. der Kommunikation mit Verstorbenen, große Verbreitung. Von hier ausgehend gelangten sie über den Atlantik in das junge Amerika, wo sie von der New Church ganz und gar vertreten, gelehrt und verbreitet wurden. Bewegungen wie der Transzendentalismus, der Spiritualismus, die Neugeist-Bewegung und die Theosophie adaptierten auf unterschiedliche Weise seine Ideen. (3)


3. Philosophie der Osteopathie

In den 1850ern lebte Andrew Taylor Still als Grenzlandpionier in Kansas, wo er als medizinischer Lehrling an der Seite seines Vaters arbeitete. Die aus dem Nordosten einströmenden Siedler waren größtenteils Anhänger der Anti-Sklaverei-Bewegung und wollten Kansas als einen freien Bundesstaat Amerikas etablieren. Mit ihnen gelangten viele Swedenborgianer und andere Gleichgesinnte in den Mittleren Westen und umspülten Still mit dem modernsten metaphysischen Gedankengut jener Zeit. In diesem stark von Swedenborgs Weltbild geprägten Umfeld entwickelte Still in den späten 1850ern seine Ideen zur Osteopathie, die er über die nächsten 60 Jahre stetig weiterentwickeln sollte. (4)

W.G. Sutherland wiederum besuchte Stills American School of Osteopathy, die erste osteopathische Schule der Welt, in Kirksville und entwickelte später die Kraniale Osteopathie. Dabei beschreibt er in Bezug auf den Primären Respiratorischen Mechanismus fünf Paradigmen:

  • Die inhärente rhythmische Motilität des Gehirns und des Rückenmarks
  • Die Fluktuation der zerebrospinalen Flüssigkeit
  • Das reziproke Spannungssystem der Dura mater
  • Die voneinander abhängigen Bewegungen der Schädelknochen
  • Die (damit) assoziierte unwillkürliche Bewegung des Sakrum (9)

4. Grundprinzipien des Lebens

Durch alle Arbeiten von Swedenborg, Still und Sutherland zieht sich beispielhaft die Idee eines Grundprinzips des Lebens bzw. einer Lebenskraft.


4.1. Swedenborg

Swedenborg beschrieb als Erster, wie diese ausgehend vom Schöpfer durch die himmlische Sphäre hinab in die natürliche Sphäre fließt – allen voran in den Menschen. Diese Lebenskraft durchdringt die Seele, gelangt über diese in den Körper und beseelt darin alle Aspekte. Swedenborg zufolge enthält diese Lebenskraft eine inhärente und das Individuum in allen Ebenen durchdringende Weisheit.

Ein anderes Paradigma von ihm beschreibt, wie die Lebenskraft mit Hilfe einer ätherischen Substanz in den Körper gelangt, um die durch ihn pulsierende zerebrospinale Flüssigkeit zu beseelen. Dies geschieht synchron mit der animierten Bewegung von Gehirn und Rückenmark und in reziproker Verbindung mit der Dura mater, welche die Bewegung an die Schädelknochen vermittelt. Nerven- und Kreislaufsystem übertragen die Lebenskraft in den übrigen Körper, darunter auch in seine faszialen Verbindungen. In diesem Zusammenhang beobachtete Swedenborg eine gelegentliche, aber nicht unbedingt obligatorische Synchronizität mit dem Atemrhythmus. Für Swedenborg beinhaltet die den gesamten Körper durchdringende ätherische Lebenssubstanz eine Kraft (Potency), die in dieser Stärke nicht aus der Natur allein herrühren kann. Er erkannte die Bewegung des Gehirns als Ausdruck der Seele sowie die Bewegung der zerebrospinalen Flüssigkeit als Ausdruck eines spirituellen Fluidums. Beide zusammen bilden die irdische Quelle der Potency. (13)


4.2 Still

Auch Stills Schriften und seine Philosophie der Osteopathie sind durchdrungen vom Konzept der Lebenskraft. Er beschreibt Leben als das höchste bekannte schöpferische Prinzip. Die Lebenskraft, die vom „Vater aller Bewegung“ stammt, beseelt die gesamte Natur und im Besonderen den Menschen. Dies allein bezeichnet das große universale Gesetz der Natur: Das Leben selbst trägt eine Weisheit zur Vereinigung des Geistigen und Stofflichen (2) in sich. Durch sie wird der Mensch in seiner körperlichen Ausprägung erschaffen: „Das Leben betritt den Menschen, jenes höchste Kunstwerk Seiner Schöpfung. In ihm befindet sich Weisheit und Fähigkeit zur Konstruktion.“ (6)

Still und Swedenborg teilten die Ansicht, dass das Leben seinen Ursprung in einem Schöpfer hat, von dort aus in eine spirituelle (himmlische) Sphäre fließt und diese mit der materiellen bzw. physischen Ebene des Seins vereint. Dies gilt vorrangig für den Menschen, bei dem das Leben über den Geist in den stofflichen Körper fließt und ihn mittels seiner Intelligenz ausformt. In diesem Zusammenhang sieht Still das Gehirn als natürliches Kraftzentrum des Lebens, welches den restlichen Körper belebt. Er erkannte, dass das gesamte Nervensystem durch eine Kraft und eine Flüssigkeit angetrieben wird, die beide dem Gehirn entspringen und in den Körper geleitet werden. Demzufolge benennt er die zerebrospinale Flüssigkeit auch als „höchstes bekanntes Element“, welches den Körper belebt. Still geht hier mit Swedenborg konform und begründet in seinem therapeutischen Ansatz so die überragende Bedeutung des Nervensystems. (7)


4.3 Sutherland

Sutherland trat in die Fußstapfen von A.T. Still, erweiterte dessen Ideen und ließ sie in die kraniale Osteopathie einfließen, indem er etwas Primäres zur normalen Atmung erwähnt; etwas das den Primären Respiratorischen Mechanismus entzündet. Er beschreibt dieses Etwas als metaphysisch und mit Kraft (Potency) und Intelligenz ausgestattet, um den Mechanismus anzutreiben und ihn in Richtung einer Balance zu führen. Dieses Etwas liegt innerhalb der zerebrospinalen Flüssigkeit, ohne jedoch Teil von ihr zu sein, und er benannte es mit Atem des Lebens. (9) Besonders bei Sutherland fanden Swedenborgs Ideen großen Anklang:

„Es ist kein neuer Gedanke. Swedenborg erklärte bereits vor 200 Jahren, dass sich das Gehirn bewegt. Haben wir etwas ganz Neues zu bieten? Nein.“ (11)

Sutherland achtete sehr darauf, die Weiterentwicklung seiner Ideen im Rahmen von Stills Philosophie der Osteopathie zu halten. Und er wusste um die Ähnlichkeiten zwischen Still und Swedenborg:

„So wie Swedenborg Anatomie vor 200 Jahren auf seiner Suche nach der Seele studierte, so studierte Dr. Andrew Taylor Still das Werk des Schöpfers – den menschlichen Körper.“ (12)

Sutherlands Konzept vom Atem des Lebens harmoniert demnach so gut mit Stills Grundprinzip des Lebens bzw. der Lebenskraft, weil beide auf Swedenborgs Weltbild aufbauen. Es gibt zahlreiche Beispiele, die diese These stützen. Die Frage ist also nicht, ob, sondern wie groß Swedenborgs Einfluss auf die Gründerväter der Osteopathie war. Und wer hier darüber mehr erfahren möchte, dem empfehle ich die Lektüre von Osteopathie und Swedenborg, das eine Übersicht meiner langjährigen Forschungen zum Thema enthält.




Englisches Literaturverzeichnis

(1) Acton A.: Introduction. In: Swedenborg E.: Cerebrum. Swedenborg Scientific Association: Bryan, Pennsylvania, 2005.
(2) Fuller D.B.: Osteopathy and Swedenborg. The Influence of Emanuel Swedenborg on the Genesis and Development of Osteopathy, Specifically on Andrew Taylor Still and William Garner Sutherland. Swedenborg Scientific Association: Bryan, Pennsylvania, 2012.
(3) Kirven, R.H.: Swedenborg's contributions to the history of ideas, In: Emanuel Swedenborg: a continuing vision. Swedenborg Foundation, New York, 1988.
(4) Sigstedt C.: Swedenborg Epic. Kessinger Publishing, Withefish, MN: 152, 110.
(5) Still A.T.: “Life of Man is Eternal”, In: Still, Philosophy and Mechanical Principles, Hudson-Kimberley, Kansas City, MN, 1902.
(6) Still A.T.: Autobiography (Reprint). Osteopathic Enterprise: Kirksville, MO. 1986.
(7) Still A.T.: Osteopathy: Research and Practice (Reprint). Osteopathic Enterprises, Kirksville, MO. 1986.
(8) Still A.T.: The Philosophy and Mechanical Principles of Osteopathy (Reprint). Osteopathic Enterprises; Kirksville, MO. 1986.
(9) Still A.T.: The Philosophy of Osteopathy (Reprint). Osteopathic Enterprises, Kirksville, 1986.
(10) Sutherland W.G.: Contributions of Thought. Ruda Press, Portland, Oregon, 1998.
(11) Sutherland W.G.: Cranial Bowl: Extracts, “Talk Given by Dr. Sutherland”, Free Press, New York, 1994.
(12) Sutherland W.G.: Teachings in Science of Osteopathy. Ruda Press, Portland, Oregon, 1990. (13) Swedenborg E.: Arcana Caelestia, Standard ed. Chrysalis Books (Swedenborg Foundation), West Chester, 1977.
(14) Swedenborg E.: Brain, Vol. 1. Swedenborg Scientific Association, Byran, PA., 2005.
(15) Swedenborg E.: Brain, Vol. 2. Swedenborg Scientific Association, Byran, PA., 2005.
(16) Swedenborg E.: Cerebrum. Swedenborg Scientific Association, Byran, PA., 2005.
(17) Swedenborg E.: Divine Love and Wisdom. Chrysalis Books. Swedenborg Foundation, West Chester, 1990.
(18) Williams-Hogan J.K.: Swedenborg: A Biography. The Academy of the New Church, Bryn Athyn, Pennsylvania, 1988.
(19) Woofenden W.R.: Swedenborg explorer's guidebook: a research manual for inquiring new readers, seekers of spiritual ideas, and writers of Swedenborgian treatises. Rev. 2. ed. Swedenborg Foundation Publishers, West Chester, Pennsylvania, 2008.


Zum Thema in deutscher Sprache verfügbar


Bildquellen

  • David Fuller: Mit freundlicher Genehmigung des Autors.