EDITORIAL: Dämmerzonen


Editorial

Aus dem Newsletter Apr/Mai 2021, Nr. 235. © JOLANDOS e.K. 2021

Dämmerzonen


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

na, erkennen Sie den Mann im Bild?

Stellen Sie sich einfach eine kritische OP vor, bei der wichtige Zielstrukturen plötzlich nicht mehr genau identifiziert werden können. Es passiert auch, wenn man bei einer Auskultation kaum noch Herzgeräusche hört und zu ‚lauschen‘ beginnt. Oder beim Kochen, während des Abschmeckens. Oder beim Versuch den zarten Duft einer kaum riechenden Blume zu ‚erschnuppern‘. Diese Phase der Sinnesschärfung in den Grauzonen wurde bei den vier eben genannten Sinnen bereits mehr oder weniger gut erforscht.

Dadurch ist bekannt, dass sich neuronale Verarbeitungsprozesse im Gehirn in den 'Dämmerzonen' gegenüber dem Normalzustand, d.h. wenn Objekte und Situationen entweder klar zugeordnet werden können, oder weil sie aufgrund zu geringer Sinnesreize keinen Zuordnungsprozess mehr auslösen, verändern. Werden die Situationen vom Gehirn als potenziell bedrohlich interpretiert, entstehen Angstgefühle, gefolgt von Flucht- oder Angriffsreaktionen. Wird hingegen keine Bedrohung assoziiert, kommt es zu einem Phänomen, das man als qualitative Wahrnehmung bezeichnen könnte. Während der Sinnesschärfung öffnet sich ein innerer Erfahrungsraum, in dem das aktive Erkennen-Wollen einem passiven Auf-sich-Zukommen-lassen weicht.

Was einem dann bewusst 'erscheint', hängt stark vom Grad der bereits bestehenden rationalen Auseinandersetzung mit vergleichbaren Situationen ab. Einfach ausgedrückt: Grundwissen, aber auch Glaubenssätze haben einen starken Einfluss auf das, was uns im Moment des Erkennens als Wirklichkeit 'erscheint'. (Dies erklärt, warum mangelnde Selbstreflexion gerade im Umfeld qualitativer, d.h. subtiler Therapien in höchstem Maße unverantwortlich und sogar gefährlich ist.) Aber zurück zu dem 'switch' in der Wahrnehmung.

Bezogen auf unser obiges Bild, beginnt der Blickfokus zwischen Detailsuche und bildlich ganzheitlicher Erfassung zu oszillieren. Gleichzeitig bleibt die Konzentration und Aufmerksamkeit auf gleichbleibend hohem Niveau. Man lässt sozusagen etwas los, ohne es loszulassen, sozusagen. Es ist genau diese Paradoxie, die das qualitative Empfinden verursacht. Noch besser ist das Beispiel mit der kaum duftenden Blume. Nach was riecht sie? Man schließt die Augen, geht also ganz in die Introspektion und lässt den Sinneseindruck 'auf sich wirken'. Absolut konzentrierte Offenheit bei völliger Abgabe der Kontrolle. Aber wem erzähle ich das? Sie als OsteopathInnen kennen diesen Zustand nur allzu gut. Ich brauche nur Stichworte wie Listening, Motilität, oder kraniosakraler Rhythmus zu nennen.

Aus medizinhistorischer Sicht scheint W.G. Sutherland diese Art der qualitativen Palpation tatsächlich als Erster umfassend in der Neuzeit beschrieben zu haben. (Bereits in der Antike war die qualitative Berührung Bestandteil der Kunst der ‚schauenden‘ Diagnostik, als weiblichem Anteil der altgriechischen Medizin (1). Nach Sutherlands Tod wurde dieser qualitative Wahrnehmungseffekt vor allem von Therapeuten wie Rollin Becker, Viola Frymann, Jim Jealous, Tom Shaver, John Upledger und einigen anderen weiter verbreitet.

Spannend für die Osteopathie: Es wurden bereits vier Sinne in Bezug auf diese Wahrnehmungsform erforscht, nicht aber die Palpation. Die praktizierenden Osteopath*innen befinden sich in diesem Bereich also mit Ihren täglichen Erfahrungen an der Spitze der empirischen Wissenschaft. Wirklich wertvoll für die gesamte Menschheit wird dieses Erfahrungswissen aber erst, wenn die institutionelle Osteopathie allgemeingültige Schnittstellen zum Andocken an andere Wissenschaftsdisziplinen, allen voran natürlich mit den modernen Neurowissenschaften, liefern könnte. Das kann sie aber aufgrund des momentanen Identitäts-Chaos nicht, die ein einheitliches Wissenschaftsverständnis innerhalb der Osteopathie verhindert.

Initiativen zur Schaffung von mehr Einheitlichkeit und Wissenschaftlichkeit in der Osteopathie gibt es zwar, aber diese greifen zu kurz und werden daher auf die Osteopathie als Ganzes in punkto qualitative Wahrnehmung keinen nachhaltigen Einfluss haben. Die Etablierung von 'fünf Modellen' in der Osteopathie kaschiert das Identitäts-Chaos lediglich, OSEAN operiert nur in wenigen Ländern auf europäischer Ebene und touch.net befasst sich nicht mit qualitativer, sondern quantitativer Palpation.

Aber wer weiß, vielleicht gelingt es kommenden und verständigeren Osteopathie-Generationen besser zur kooperieren, um die Osteopathie aus dieser gegenwärtigen 'Dämmerzone' herauszuführen. Bis dahin hilft es sicherlich, seine eigene qualitative Palpation weiter zu pflegen und vielleicht ab und zu den einen oder anderen Ursprungstext zum Thema als Inspirationsquelle zu studieren.


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
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Quellennachweise

Bildquellen

  • Mann in Dämmerung: gemeinfrei