EDITORIAL: Von Demut und Vergangenheit!


Editorial

Aus dem Newsletter Feb 2023, Nr. 242. © JOLANDOS e.K. 2023

Von Demut und Vergangenheit!


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

liest man in den medizinhistorischen Standardwerken über altägyptische Heilkunde nach, erhält man den Eindruck, die damaligen Heiler hätten bereits auf ein umfassendes Repertoire an empirischen Anwendungen zurückgegriffen, welches durch magische Rituale lediglich ergänzt wurde. Heute weiß man, dass dieses Bild falsch ist. Tatsächlich kannten die Heiler des Altertums keine solche Unterteilung. Sie dachten stets komplex-holistisch. Es zeigt sich darüber hinaus, dass die aus heutiger Sicht als ‚magisch‘ beschriebenen Anteile einen weitaus größeren Raum einnahmen, als bisher angenommen. Die bisherige Fehlinterpretation wirft nun einige interessante Fragen auf, deren Bedeutung für die Osteopathie ich im Lauf des Editorials erschließen möchte.


Warum wurde die altägyptische Heilkunde fehlinterpretiert?

Der grundlegende Fehler lag in der Überzeugung, die rational-empirische Denkschule der gegenwärtigen allopathischen Heilkunde sei grundsätzlich allen alten Heilkunden überlegen. Dies führte zu unkritischen Rückprojektionen und erheblichen systematischen Verzerrungen:

  • Die Komplexität der altägyptischen Heilkunde ignorierend, wurde suggeriert, es hätte bereits damals ein ‚empirisches‘ und ‚magisches‘ Verständnis gegeben.
  • Dies verstellte den Blick auf die enorme Komplexität der altägyptischen Heilkunde. Man erkannte zudem nicht, dass alle Anwendungen aus damaliger Sicht logisch und in sich geschlossen miteinander verzahnt (und damit ‚rational‘) waren.
  • Texte mit eher ‚magischen‘ Inhalten wurden als minderwertig erachtet und folglich nur oberflächlich oder gar nicht übersetzt. Rational-empirische Überlieferungen studierte man hingegen aufmerksam, was zu ihrer massiven Überbewertung führte.
  • Man projizierte unkritisch moderne Krankheitsbegriffe wie ‚Typhus‘ in die altägyptischen Beschreibungen und ignorierte damit das ursprügliche Heilverständnis.
Altägyptische
Dieser überhebliche Blick auf die Vergangenheit erzeugte nicht nur ein falsches Bild. Die Überzeichnung des empirischen und die Abwertung des magischen Anteils als ‚Aberglaube‘, oder ‚altes Zeug’ bestätigte zudem das Selbstverständnis der eigenen Überlegenheit gegenüber der altägyptischen Heilkunde. (Und das, obwohl die allopathische Medizin doch selbst dem Aberglauben folgt, Krankheiten existierten in der physikalischen Wirklichkeit – wo es sich doch lediglich um rein abstrakte Begriffe handelt, die erfunden wurden, um sich akademisch besser über spezifische Symptomkomplexe austauschen zu können.)


Warum hat sich der Blick auf die altägyptische Heilkunde geklärt?

Wie inzwischen viele Disziplinen der Geschichtsforschung hat auch die Medizingeschichte ihre ‚Überheblichkeits-Verzerrung‘ öffentlich eingestanden. Jenseits aller Widerstände fühlen sich immer mehr Medizinhistoriker dem Ideal der Wahrheitssuche verpflichtet. Aus purer Neugier an der Sache trotzen sie dem >opportunistischenVersuchungen. Dem wissenschaftlichen Wahrheitsideal verpflichtet, wollen sie wissen: “Wie war die Vergangenheit wirklich?”, d.h. “Wie war sie im Verständnis der damaligen Menschen?” Schnell war klar, dass dies ein transdisziplinäres Setting erforderte. Eines, das von nicht-medizinischen Experten geleitet werden musste, die mit Sprache, Lebenszusammenhängen, Denkarten und Kulturen Altägyptens vertraut waren. Nur sie sind in der Lage ein Wissensgerüst zu bauen, innerhalb dessen sich Inhalte und Bedeutung der Papyri zeitlos verstehen lassen. Der initiale und somit entscheidende Schritt war aber das mutige Bekenntnis der Allopathen zu ihrer äußerst begrenzten Kompetenz in Bezug auf die Deutung der eigenen Wurzeln.


Welchen Nutzen hat diese neue Form ‚demütiger‘ Geschichtsforschung?

Alle Bereiche der Gesellschaft stehen heute vor dramatischen Umwälzungen! In dieser kritischen Zeit, in der alle Überzeugungen in der Öffentlichkeit auf dem Prüfstand stehen, wird es immer wichtiger die eigene Vergangenheit demütig und respektvoll zu prüfen. Gelingt es sich im sokratischen Geist „Ich-weiß-dass-ich-nicht-weiß“ (übrigens korrekt: ohne ‚s' am Ende!) aus dem Überlegenheits-Denkmuster der Moderne zu lösen, wird das Erschließen bisher ungehobener Schätze der Vergangenheit möglich, die notwendig sein werden, um eine dem 21. Jahrhundert würdigere Heilkunde mitzugestalten.


Was hat das mit der osteopathische Heilkunde zu tun?

In diesem Milieu zunehmend kritischer Prüfung durch die Öffentlichkeit kann die Osteopathie noch nicht einmal ansatzweise eine ernstzunehmende institutionelle Geschichtsforschung vorweisen. Die wenigen isolierten und sicherlich gut gemeinten Versuche historischer Forschung (etwa im Rahmen der Etablierung der ,fünf Modelle‘ der Osteopathie) mögen oberflächlich betrachtet überzeugen. Da sie aber im Geist ‚Wir-sind-ja-schon-viel-weiter‘ und ,nur-klinisch-langjährig-erfahrene-Osteopathen-verstehen-Still’, sowie stets in Hinblick auf markt- ode rberufsspolitsiche Vorteilnahme erstellt wurden, sind weder transdisziplinär, noch ‘demütig’ und damit nicht zeitgemäß oder relevant. Nüchtern betrachtet entspricht die institutionelle osteopathiehistorische Forschung dem Stand der medizinhistorischen Forschung vor etwa 250 Jahren. Mag der Baum der Osteopathie momentan auch noch so fette Früchte tragen, die Identitäts - und Authentizitäts -Wurzeln faulen aufgrund dieses Mangels munter vor sich hin – was sich langfristig rächen wird. Baum


Was bringt eine ‚demütige‘ Geschichtsforschung der osteopathischen Heilkunde?

Auch die osteopathische Heilkunde wird von schmerzhaften Umbrüchen erfasst werden. Auch sie wird zunehmend in Hinblick auf ihre historische und philosophische Authentizität auf dem öffentlichen Prüfstand stehen. Auch für sie wird es immer wichtiger werden, die eigene Vergangenheit demütig und respektvoll zu prüfen. Gelingt ihr dies befreit vom Überlegenheits-Denkmuster der Moderne, beseelt vom ur-osteopathischen Geist des Wissen-wollens jenseits markt- und berufspolitischer bzw. persönlicher Vorteilnahme und ermöglicht durch das mutige Bekenntnis zur begrenzten Kompetenz der klinischen Expertise bei der Erschließung von Inhalt und Bedeutung der ursprünglichen Philosophie der Osteopathie, wird sie ungeahnte Schätze erschließen. Schätze, die notwendig sein werden, damit die faulen Wurzeln der Osteopathie wieder heilen können. Denn nur aus ihnen kann eine demütige osteopathische Heilkunde entstehen, die des 21. Jahrhunderts auch wirklich würdig ist.

Dieser Entwicklungsschritt wird kommen. Wann und durch welche Initiative dies geschieht ist offen. Nur eins ist klar: Egal, ob dieser Schritt durch einen Generationswechsel von innerhalb der Osteopathie, oder z.B. durch wachsendes Interesse medizinhistorischer Fakultäten von außerhalb der Osteopathie kommen wird, wer diesen mutigen Schritt geht, wird auch langfristig die Früchte der Osteopathie ernten.



LoMeRio"

Noch ein kleiner Hinweis


2021 habe ich im Editorial ‚Magische Momente‘ über eine Initiative der neuen Osteopathie-Generation berichtet. Inzwischen ist daraus mit LoMeRio eine Internet-Plattform entstanden, die exzellente Rahmenbedingungen für einer neue – weil an keine osteopathischen Institutionen gebundene – Form der Informations-Kultur im Bereich der Osteopathie (und darüber hinaus) bietet. Noch ein zartes Pflänzchen – und ebenso frisch und kraftvoll! (Und dazu noch billiger und abwechslungsreicher als die bekannten osteopathischen ‚Magazine‘). Einfach mal reinschauen! (*) (*)Bei erfolgreicher Anmeldungen über diese Links gibt’s für mich eine kleine Provision. 😉



Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
kontakt@jolandos.de


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