EDITORIAL: Magische Momente


Editorial

Aus dem Newsletter Jan 2021. © JOLANDOS e.K. 2021

Magische Momente


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

herzlich willkommen im neuen Jahr 2021 bei JOLANDOS!

Lassen Sie mich dieses Jahr mit einer Geschichte beginnen: Vor etwa 30 Jahren war ich mit Freunden in einem kleinen Boot auf dem Weg zu der damals nahezu unerschlossenen Insel 'Caño' vor der Westküste Costa Ricas. Es war vormittags, das glitzernde Meer wogte noch ruhig und alles war in lichte Meeres- und Himmelsfarben getaucht. Der Motor tuckerte gemütlich vor sich hin und ich genoss dösend den Augenblick. In diesem selbstverlorenen Moment tauchte plötzlich ein großes Gefühl durch mich hindurch auf. Etwas Besonderes näherte sich aus der blauen Tiefe. Das Gefühl traf mich völlig unvorbereitet und reichte weit über mich hinaus. Ich setzte mich auf und betrachtete gespannt das Meer um mich herum. Das Gefühl wurde intensiver und immer dichter. Wenige Augenblicke später erschien eine kleine Delphinschule an der Wasseroberfläche. Still und ruhig gleitend. Fast beiläufig begleiteten sie uns ein paar Minuten, um dann wieder in der Tiefe zu verschwinden. Das Echo des magischen Gefühls sollte noch tagelang anhalten ...

Jeder von uns kennt solche absolut stimmigen Momente, solche 'richtigen' Augenblicke. Es sind Zufälle, die uns einfach so passieren. Keine Belohnung für das, was man ist oder geleistet hat, sondern einfach nur wundervolle Überraschungs-Geschenke. Sie kommen und gehen nach ihren eigenen und uns unbekannten Gesetzen. Kein Warum. Kein Wofür.

Und nun scheint mir, als tauche in diesem Sinn auch innerhalb der Osteopathie-Welt völlig überraschend etwas Großes aus der Tiefe aus. Langsam und mächtig. Was meine ich?

Wie einige von Ihnen sicherlich bemerkt haben, war ich in den vergangenen Jahren in der etablierten Osteopathie-Szene immer weniger präsent. Dafür gab es keinen bestimmten Grund, es entwickelte sich einfach. Gleichzeitig intensivierte sich der Austausch mit der jungen Osteopathie-Generation. Das lag vor allem daran, dass immer mehr StudentInnen nach der Teilnahme an meinem Seminar Historisch reflektierte Osteopathie eine Abschlussarbeit zum Thema ‚ursprüngliche Osteopathie‘ schreiben wollten. Osteopathie-Schulen bieten in diesem Gebiet gewöhnlich keine Betreuung an, weshalb die Aspiranten an mich weiterempfohlen wurden oder von sich aus auf mich zukamen.

Im Rahmen der inzwischen mehreren dutzenden Betreuungen, vertiefte sich der Kontakt. Viele von ihnen kennen sich untereinander (noch) nicht. Und doch verbindet sie bereits jetzt etwas großes Gemeinsames. Ohne es zu wissen, bilden sie schon jetzt eine ganz besondere Community. In ihr definiert man sich nicht mehr durch Ab- oder Ausgrenzen gegenüber Anderen; hier klopft keiner dem anderen selbstgefällig auf die Schulter; auch Heldeninszenierungen wie ‚meet-the-stars‘ sehen sie eher befremdlich. Hierarchische oder autoritäre Strukturen? Absolutansprüche oder sogar missionarischer Dogmatismus? Fehlanzeige. Alles ist beweglich in dieser Community. Hier geht es nicht um ein privilegiertes Dazugehören, sondern um zwangloses Dabeisen. Dieses Dabeisein ist erfüllt vom spielerischen Denken 'jenseits der Wagenspuren', das sich nicht an vorgegebenen Theorien festhält, sondern ganz im Sinne des 'open source', aus vielen Theorien immer wieder neue Denkformen erschafft. Freies Fließen wird nicht als heiliges Wissen beschworen, sondern wie selbstverständlich gelebt. Interessierte Fragen und vergängliche Antworten sind das Ziel, keine absoluten Wahrheiten. Alles innerhalb der Community ist beständig und ruhig im Wandel. Alles scheint sich selbstorganisierend zu erschaffen und wieder zu lösen. Naturphilosophie 'at its best' sozusagen.

2020 sind erste Schemen dieser Community vor allem in Form einer Online-Osteopathie-Fachkongresswoche sichtbar geworden. Die auftauchende Finne des ersten Delfins sozusagen. Oder genauer gesagt, einer Delfinin (Anne Henle). Trotz unschönem Widerstand aus dem Lager der ‚Alten‘ im Vorfeld hat Anne das Event unbeirrt und völlig eigenständig organisiert und fürsorglich begleitet. Ihre persönlichen Ansprachen waren eine willkommene Abwechslung zu den gewohnten jovialen Ansprachen. Hier entfaltete sich Dilettantismus im allerbesten Sinn. Das Ergebnis: Einfach nur ein tolles, aus dem Nichts auftauchendes Event, bei dem es tatsächlich nur im Inhalte ging. Kein Wunder, dass nicht nur über 2000 (!) Besucher dabei waren, sondern Anne auch ein überwältigendes Feedback bekam! Und so wie es aussieht, war das erst der Anfang.

Und wir ‚Alten‘? Nun, solche Begriffe kennt man in der Community eigentlich nicht. Bei 'open source' darf Jedermann jederzeit dabei sein. Allerdings nur solange man sich nicht zu wichtig nimmt, die Bühne nicht zur persönlichen Profilierung nutzt und alle anderen glaubwürdig als gleichrangig und gleichwertig respektiert. Wem das nicht gelingt, um den kümmert sich die selbstorganisatorische Kraft der Community: man diffundiert dann still und heimlich davon. Für mich fühlt sich das alles ziemlich erfrischend gesund und organisch an. Und vielleicht sollte man in der institutionellen Osteopathie-Welt mal ernsthaft darüber nachdenken, das Ruder langsam an diese Community zu übergeben, anstatt sich immer wieder in den eigenen Wagenspuren gefangen zu nehmen.

Wie dem auch sei, ich persönlich freue mich jedenfalls schon sehr auf die kommenden Jahre meiner Reise auf der Schaluppe JOLANDOS über den Ozean namens ‚Osteopathie‘. Einem Ozean, der für uns alle sicherlich noch so einige magische Momente bereithalten wird. Da bin ich mir sicher.


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
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