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INFOTHEK

EDITORIAL: Osteopathie lernen: Von Büchern, Eigenständigkeit, Natur und Ehrfurcht


Osteopathie lernen: von Büchern, Natur und Ehrfurcht


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Liebe FreundInnen und Freunde der Osteopathie,


im letzten JOLANDOS-Newsletter in diesem Jahr möchte ich Ihnen wieder einmal zeigen, wie reichhaltig die Ursprungstexte der Osteopathie sind. Hierzu verwende ich eine Aussage Stills aus dem Jahr 1897, die sich auf die Art und Weise bezieht, wie man Osteopathie erlernt. Sie beginnt wie folgt:


"Du musst tief greifend mit der Anatomie bekannt gemacht werden, nicht nur die Namen der Knochen, Muskeln, Nerven, Venen und Arterien kennen, sondern Du musst alles über sie wissen, was es nach Maßgabe der jüngsten Standardautoren zu wissen gibt."  (St-K. S. I-109)


Still bezieht sich hier auf medizinische Standardliteratur, was zeigt, dass er keine grundsätzlich negative Haltung gegenüber der Medizin als Ganzes hatte. Tatsächlich betrachtete er seine ursprüngliche Philosophie der Osteopathie als Weiterentwicklung des Denkens innerhalb der Medizin, weg von der stark traditionellen und autoritären Prägung, hin zum eigenständigen Denken und Handeln im Sinne vernunftbasierten 'clinical reasoning'. Das autodidaktische Studium der Standardwerke dient in diesem Kontext nicht dazu, die Lehren vermeintlicher osteopathischer Autoritäten zu verstehen, sondern – ganz im Gegenteil – sich jenseits autoritären Lernens selbst zu befähigen eigene Erkenntnisse zu gewinnen, um daraus vernunftbasiert Handlungen abzuleiten. Eigenständigkeit im Denken und Handeln, sowie Unabhängigkeit von Autoritäten bilden somit ein zentrales Identitätsmerkmal der (ursprünglichen Philosophie der) Osteopathie.

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Haben sich die StudentInnen der Osteopathie nun außerhalb der eigentlichen Unterrichtszeiten im Eigenstudium mit dem medizinischen Grundwissen umfassend vertraut gemacht, folgt der nächste Schritt:

"Nun wirst Du für wert befunden die Unterrichtsräume als Lehrling zu betreten. Einmal im Operationsraum befindest Du Dich an einem Ort an dem gedruckte Bücher keine Bedeutung mehr haben. Deine eigene Kunstfertigkeit, zusammen mit dem großen Buch der Natur fordern allein Respekt in diesem Arbeitsfeld."

Es geht also darum, bereits vorhandenes Grundwissen während des Unterrichts an der Wirklichkeit zu erfahren und zu erproben. Durch eigenständiges Beobachten und Handeln wird es das zuvor erlernte Wissen nicht nur vertieft, sondern auch kritisch geprüft und ggf. ohne Rücksicht auf die Autorität der AutorInnen revidiert. Nicht das Wissen, Können oder die Erfahrung der LehrerInnen ist hier also von primärer didaktischer Relevanz, sondern ihre Fähigkeit den Studierenden die optimalen Bedingungen für Selbststudium und Selbsterprobung zu verschaffen. Historischer Hintergrund: Still selbst hatte die Philosophie der Osteopathie autodidaktisch entdeckt. Für ihn konnte Osteopathie folglich nur auf diesem Weg erlernt und vor allem vertieft vertsanden werden. Eine auf autodidaktisches Lernen, autoritätskritisches Denken und eigenständiges Handeln ausgerichtete Ausbildung wäre damit ebenfalls ein Identitätsmerkmal der (ursprünglichen Philosophie der) Osteopathie.

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Dass Osteopathie lernen zugleich die Begegnung zwischen Mensch und Schöpfung bedeutet und damit bei Still einen fast sakralen Charakter erlangt, wird im im letzten Teil des Zitates deutlich:


"Hier (Anm: in den Unterrichtsräumen und im Operationsraum) legst Du die langen Worte beiseite und nutzt Deinen Verstand in tiefem und stillem Ernst. Trinke tief von der ewigen Quelle der Vernunft, dringe in den Wald des Gesetzes ein, dessen Schönheiten im Leben und im Tod liegen."


Ja, es geht um Lernen, und vernunftbasiertes Handeln, aber es geht zugleich um freies und tiefes Empfinden und um die Bewusstheit, dass die Wirklichkeit, allen voran die belebte Wirklichkeit mit allen Menschen in ihr, Teil einer vollkommenen Schöpfung ist. Rationalität und Pathos ergänzen sich in der ursprünglichen Philosophie der Osteopathie somit ebenso, wie wissenschaftliches Denken und ästhetisches Empfinden. Und da all dies von einer tiefen und freudig erregten Ehrfurcht vor dem Wunder der Existenz getragen wird, stellt die Fähigkeit eben diese Ehrfurcht zu empfinden ebenfalls ein wichtiges Identitätsmerkmal der (ursprünglichen Philosophie der) Osteopathie dar.

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Wieder stecken in wenigen Zeilen aus den Gründerdokumenten der Osteopathie viele wertvolle Informationen für die gegenwärtige Osteopathie. Wieder einmal lohnt sich ihr genaues Studium vor dem historischen Hintergrund, denn es enthüllt, dass die Identität der Osteopathie primär durch Kriterien bestimmt wird, die sich auf die innere Haltung der OsteopathInnen selbst beziehen. Nicht irgendwelche nebulösen Prinzipien oder Modelle, auch keine Techniken oder klinischen Konzepte und schon gar keine Ansichten so genannter osteopathischer Autoritäten definieren demnach die Osteopathie, sondern allein der praktizierende Mensch in seiner ernsthaften Arbeit an den PatientInnen! Ein Mensch, der eigenständig denken und handeln kann, einer der in der Lage ist autodidaktisch und autoritätskritisch zu lernen und einer der eine tiefe Ehrfurcht vor der Schöpfung empfindet.


In diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen für die kommenden Feiertage viel ehrfürchtiges Staunen! 😉


Haben Sie außerdem vielen Dank für Ihr langjähriges und anhaltendes Vertrauen in meine Arbeit, Ihre wohlwollende Unterstützung durch ihre Einkäufe bei JOLANDOS und Ihre Buchungen meiner Seminare! Sie helfen damit aktiv mit, die spannende Osteopathiegeschichte auch über die kommenden Jahre lebendig zu halten!

Viel Vergnügen mit Ihrer Osteopathie!

Ihr

Christian Hartmann

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