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INFOTHEK

EDITORIAL: Von Rätseln und dem Duft alten Papiers



Von Rätseln und dem Duft alten Papiers

Liebe FreundInnen und Freunde der Osteopathiegeschichte,

 

kürzlich stand ich vor meinem Regal mit Literatur aus der frühen Osteopathiegeschichte. Ich liebe den Duft alten Papiers, der von dort ausgeht. Er lässt mein Herz höher schlagen. Abenteuerlust auf Schatzsuche nach überraschenden Erkenntnissen kommt auf. Ich ziehe irgendein beliebiges Buch heraus. Es ist von L.E. Page (1894-1968). Ah, denke ich, es geht um amerikanische Osteopathie Ende der 1920er. In der Einführung lese ich:

„Das Prinzip einer solchen Behandlung muss darin bestehen, die Umgebung des Körpers an die Bedürfnisse des Körpers anzupassen und gleichzeitig die Struktur des Körpers so zu anzupassen, dass eine Rückkehr zur normalen physiologischen Aktivität gefördert wird." (1) 

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Ein Rätsel
 

Der zweite Teil des Satzes ist klar. Es geht um Zusammenhang zwischen Anatomie und Physiologie. Was aber könnte '[...] die Umgebung des Körpers an die Bedürfnisse des Körpers anzupassen [...]' bedeuten? Im letzten Kapitel Prinzipien der Diagnose und Behandlung und werde fündig:

 

"Klimatische Bedingungen sollten bei den Überlegungen mit einbezogen und die Patienten entsprechend angewiesen werden. Die berufliche Situation kann erschwerend hinzukommen und müsste ggf. verändert werden. Soziale und wirtschaftliche Bedingungen müssen berücksichtigt werden. Häufig kann die Behandlung eines bestehenden Zustands allein aus der Anpassung der Umwelt bestehen, ohne direkt am Patienten angewendete Anwendungen." (2)

 

Ich finde noch mehr gleichlautende Aussagen. Immer werden unterschiedlichsten Läsions-Quellen und folgerichtig auch nicht-manuelle Anwendungen angedeutet oder beschrieben, was auf den ganzheitlichen Charakter der amerikanischen Osteopathie Ende der 1920er hinweisen würde. Zentrales Paradigma bildet hierbei das allgemein bzw. universell ausgedeutete  Anpassungsprinzip im Sinne von 'der Zustand eines Menschen ist Ergebnis von Prozessen, die sich unterschiedlichsten Lebensbedingungen anpassen'. Interessant, denn die allgemeine Ausdeutung galt noch nicht in der Gründerzeit der Osteopathie. 

 

Das führt mich zu einem der größten Rätsel in der frühen Osteopathie... 

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Noch ein Rätsel


Der Entdecker der Osteopathie, A.T. Still (1828-1917), hatte das Anpassungsprinzip und dessen zentrale Bedeutung in seinen Büchern (1892-1910) beschrieben. Damit lag er im Trend, denn Darwin, Spencer, Virchow, Bernard und andere hatten es bereits ab Ende der 1850er in Form der Evolutions- bzw. der Milieutheorie äußerst populär gemacht. Anders als Darwin, Virchow und Bernard, die darunter vorrangig ein biologisches Prinzip verstanden, scheint Still Spencers philosophische Interpretation zu teilen, der darin ein allgemeines, d.h. auf alle Lebensbereiche übertragbares Prinzip erkennt. Still teilt diese Ansicht, was daran ersichtlich ist, dass er seinen LeserInnen die große Bedeutung des Anpassungsprinzips anhand vieler Beispiele aus unterschiedlichsten Lebensbereichen zu veranschaulichen versucht. Umso rätselhafter erscheint, dass er es innerhalb seiner osteopathischen Praxis drastisch einschränkt hat auf:

 

- ausschließlich anatomische Läsionen, 
- monkausales Verständnis (er sucht und behandelt i.d.R. nur eine anatomische Läsion),
- nur anatomisch-physiologische Zusammenhänge,
- nur manuelle und wohl ausschließlich strukturelle Techniken.

 

Warum diese Einschränkung? Warum sind für den Landarzt Still Klima, Psyche, Umwelt, Ernährung, soziales Umfeld etc. im Vergleich zur Anatomie keine nennenswerten Läsions-Quellen? Warum nur manuelle Techniken? Hatte er bestimmte Gründe für diese drastische Einschränkung? Da bis heute keine institutionelle osteopathiehistorische Forschung existiert und somit entsprechende Sekundärliteratur fehlt, kann diese Frage nicht beantwortet werden. 

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Ich bin natürlich nicht der Erste, dem diese Einschränkung der Läsions-Quellen aufgefallen ist. Bereits 1903 schreibt  J.M. Littlejohn (1866-1947):

 

„Jeder Osteopath weiß, dass es Läsionen gibt. Jedoch sind osteopathische Läsionen nicht ausschließlich ›Knochenläsionen‹, sondern sie umfassen muskuläre, ossäre, osseär-ligamentöse, organische und vitale bzw. psychische Läsionen sowie  Ernährungsläsionen." (3)

 

In seinen Schriften weist Littlejohn neben anatomischen Läsions-Quellen unentwegt auch auf Läsions-Quellen im Bereich Ernährung, Psyche und Umwelt hin. Folgerichtig versteht er das Anpassungsprinzip innerhalb der Osteopathie im allgemeinen Sinn. Damit setzt er es im ursprünglichen Verständnis, das aus welchen Gründen auch immer von Still selbst eingeschränkt wurde,  konsequent um. Untermauert wird diese These nicht nur durch Littlejohns Schriften, denn bereits ab 1898 hatte während seiner Präsidentschaft an der American School of Osteopathy (ASO) maßgeblichen Anteil daran, dass der Fokus des ASO-Lehrplans von Anatomie & Körperflüssigkeiten auf Physiologie & Nervensysteme verschoben wurde. Diese Verschiebung ist Grundvoraussetzung dafür, die Mechanismen insbesondere von Läsions-Quellen auch außerhalb des Körpers oder seitens der Psyche in ihrer Wirkung auf den Menschen als organische Einheit besser lehren und verstehen zu können. 

Jetzt erst, d.h. mit dieser Verallgemeinerung von Läsions-Quellen und Anpassungsprinzip und der damit verbundenen Ausweitung des Anwendungsspektrums weit über manuelle Techniken hinaus wird Osteopathie erst wirklich zu einer ganzheitlichen Heilkunst. Und Pages Buch zeigt, dass sich diese Osteopathie-Form Ende bis der 1920er in den USA durchgesetzt zu haben scheint.

Damit aber eröffnet sich wiederum ein ganzer neuer Raum voller Rätsel.

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Noch mehr Rätsel

 

Warum ist man in der britisch-europäischen Osteopathie nach wie vor so auf manuelle Anwendungen und anatomische Läsionen fixiert? Ist das nicht anachronistisch? Welche historische Bedingungen und Ereignisse verbergen sich hinter dieser von den USA offensichtlich abweichenden Entwicklung? Welche unterschiedlichen Osteopathie-Verständnisse entstehen dadurch? Spielt hier das Anpassungsprinzip überhaupt eine Rolle? Wird es universell verstanden? Wenn ja, wie geht das zusammen mit der Fixierung auf 'hands on'? Glaubt man an Wunderhände? Und immer wieder: Warum gibt es zu dieser ganzen Thematik keine wissenschaftlich relevante osteopathiehistorische Sekundärliteratur?

 

An dieser Stelle schlage ich das Buch schwindelig von den vielen Rätseln zu und denke mir: wow, wie schnell doch historisch reflektierte Lektüre 'alter' Osteopathie-Texte die Zeiten verschwimmen lässt und das gegenwärtige Dasein in der Osteopathie kritisch beleuchtet...

Der Duft alten Papiers
 

Nun heißt es aber erst einmal alles sacken zu lassen und in den kommenden Tagen und Wochen meine spontanen Schlussfolgerungen bzgl. des Anpassungsprinzips in der frühen Osteopathie kritisch zu prüfen. Daher schlage ich das Buch zu, schiebe es zurück ins Regal, schließe die Augen und genieße noch einmal in aller Ruhe den wundervollen Duft alten Papiers ....'* 😉

 

(1) LE Page (1927). Osteopathic Fundamentals. Kirksville, MO: Journal Printing Company. 1927. S. 33. Dt. Übers. C. Hartmann.
(2) Ebd. S. 180. Dt. Übers. C. Hartmann.
(3) JM Littlejohn, C Hartmann (Hg) (2009). Das große Littlejohn-Kompendium, Pähl: JOLANDOS e.K. S. 271. (Original in The Osteopathic World (10), 1903, S.210.).

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Ihr

Christian Hartmann

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Und damit wieder zum Tagesgeschäft von JOLANDOS.

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Kennen Sie diese Klassiker schon?

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Das große Littlejohn-Kompendium

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Handgebunden!!! – Leseprobe

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Kommentierte Version des zweiten Buchs von A.T. still, dem Entdecker der Osteopathie. Ideale Einstiegsliteratur!

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A.T. Still, C. Hartmann – 39,90 €

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Rollin Becker ist die Brücke zwischen der frühen Kraniosakralen Osteopathie und der modernen Biodynamischen Osteopathie. 

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Zahlreiche Inspirationen, um das somatoviszerale/viszerosomatische Denken im klinischen Alltag zu üben! 

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Und das war's auch schon wieder.    
Bis zum nächsten Newsletter und wie immer ...

 

Viel Freude und Erfolg mit Ihrer Osteopathie!

 

Ihr

Christian Hartmann

 

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