EDITORIAL: Von Seefahrern, Sirenengesängen und 'Historia'
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Editorial
Aus dem Newsletter Jun/Jul 2022, Nr. 240. © JOLANDOS e.K. 2022Von Seefahrern, Sirenengesängen und 'Historia'
Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,
vor etwa 4.500 Jahren begannen die kleinasiatischen Großreiche ihr Handelsnetzwerk in Richtung Westen und Norden auszudehnen. Dabei kooperierten sie eng mit Dorfgemeinschaften am östlichen Mittelmeer und Schwarzen Meer, die nicht nur über außergewöhnliche nautische Techniken und Fähigkeiten verfügten. Sie hatten durch ihre Begegnungen mit immer neuen Völkern in der überseeischen Fremde gelernt sich rasch auf Unbekanntes einzustellen.
Die Erkenntnisse aus ihren Erkundungen fassten die Seefahrer unter dem Begriff historia zusammen. Sie enthielt die Informationen vorliegender Reiseberichte, wie Routen, Klima, Ressourcen etc., aber auch Bräuche und Sitten vieler verschiedener Völker. Besonders wichtig: Wo lauerten Gefahren? Wo günstige Bedingungen? Das zur Historia verdichtete Wissen wurde sorgsam studiert, memoriert und durch Erkenntnisse neuer Reiseberichte laufend revidiert und erweitert. Aufgrund dieses Geheimwissens erlangten sie innerhalb der Großreiche einen Sonderstatus mit großer politische Autonomie. Bald hatten sie sich innerhalb der rasant wachsenden Handelsnetzwerke bis ca. 500 v.Chr. zu mächtigen Stadtstaaten (z.B. Milet) und dezentral organisierten Städtebünden (z.B. Phönizier ) entwickelt.
Laufend floss der Historia neues und erstaunliches Wissen aus immer ferneren Gegenden zu. Spezifische Mythen und Religionen genügten bald nicht mehr, die stetig komplexer werdende Welt allumfassend zu erklären. Neue allgemein gültige Theorien mussten erdacht werden. So entwickelten kundige Seefahrer, wie Thales von Milet um 500 v. Chr. auf Basis empirischer Beobachtungen, eigenständiger Reflexion und kritischem Austausch nicht nur ein neues Bild von Welt, Natur und Mensch, sondern eine völlig neue Methode des Erkenntnisgewinns. Die antike Philosophie und Wissenschaft und mit ihr die Altgriechische Medizin als erste überwiegend rationale Heilkunde erwuchsen daraus. Das Denken unserer modernen westlichen Welt wurzelt somit auf der Historia antiker Seefahrer-Völker.
Eine wichtige Rolle in der Historia spielte die Beschreibung von Gefahren, die auf Seereisen lauerten. So beschrieb Homer im 7./8. Jh. v. Chr. in seiner Odyssee (eine der ersten Verschriftlichungen der Historia) das Inselvolk der Sirenen, die mit ihren Gesängen die Seefahrer auf ihren Schiffen verführen. Diese vergessen darüber ihr Reiseziel und gehen schließlich in einer Irrfahrt unter. Jeder antike Seefahrer verstand Homers Mahnung: Behalte dein Ziel immer vor Augen! Lass dich niemals durch Verlockungen und Annehmlichkeiten davon abbringen! Es geht um mehr! Es geht um den Erhalt der Souveränität der Stadtstaaten durch Aufrechterhalten von Handel und allen voran um die ständige Erweiterung der Historia.
Hier möchte ich nun die Brücke zur Osteopathie bauen:
„Die Osteopathie steckt noch in ihren Kinderschuhen, sie ist ein gerade erst entdecktes großes unbekanntes Meer und wir sind erst mit seinem Ufer vertraut.“ (A.T. Still, Die Philosophie der Osteopathie, S. 17)
Still vergleicht die Osteopathie an dieser Stelle mit einem unbekanntem Meer. Indirekt benennt er damit die eigentliche Bestimmung: Es geht primär nicht um das Behandeln von Menschen, sondern um die vernunftorientierte Erkundung des Unbekannten (‚Jenseits der Wagenspuren denken!‘). Dort gilt es nach neuen Erkenntnissen zu forschen (D.O. heißt Dig on!), um damit die von ihm begründete Historia der Osteopathie beständig und nachweisbar weiterzuentwickeln. Das bedeutet aber auch: Solange die Texte der Gründerzeit nicht wissenschaftlich sind (und das sind sie noch nicht!), steht den OsteopathInnen keine Historia zur Verfügung, die man weiterentwickeln und aus der man mögliche Gefahren ablesen könnte!
Ohne diesen Kompass verwundert es kaum, dass die auslaufenden osteopathischen Schiffe und Flotten in der Osteopathiegeschichte regelmäßig verlockenden Gesängen nach beruflicher oder persönlicher Anerkennung, bzw. verzaubernden Gesängen charismatischer und fantasiereicher Historia-Erzählern erliegen, um letztlich orientierungslos (= identitätslos) dahinzutreiben...
Die reflektierte Geschichte der antiken Seefahrer-Völker lehrt uns: Nachhaltige und langfristige Identität, Orientierung, Anerkennung und Erfolg können nur auf den Inhalten einer eigenen und nachweisbaren Historia beruhen!
Ihr
Christian Hartmann
kontakt@jolandos.de
Bildquellen
- The Legend of Odysseus. Aquarell v. Peter Collony ©. Quelle: akg-images.de