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GASTBEITRAG: Tagebuch aus Kirksville



Erstveröffentlichung: DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie, 2005; 3: 31-32.


Auftakt

Was für eine Idee! Um sein zehnjähriges Bestehen zu feiern, veranstaltete der VOD im letzten Jahr ein Preisausschreiben unter seinen Mitgliedern. Dem Sieger winkte eine Reise nach Kirksville, gestiftet vom Verband und von JOLANDOS. Als neues Mitglied nahm ich daran teil und beantwortete auf der Website des VOD drei kurze Fragen zur Geschichte der Osteopathie. Wochen später kam ein unerwarteter Anruf aus Wiesbaden. Ich hatte tatsächlich die Reise nach Kirksville gewonnen!

Die Reise ist lang, 14 Stunden. Christian, mein Reisebegleiter, ist bestens für Kirksville gerüstet. Sein zweiter Besuch. Auf dem Flug erfahre ich viel über Still und die frühen Jahre der Osteopathie. Ankunft in St. Louis. Gutes Wetter, entspannte Atmosphäre und ein müder Geist. In Deutschland ist es gerade 1.00 Uhr nachts! Und genauso fühle ich mich. Wir fahren mit unserem Mietwagen erst einmal zu einem Hotel, um uns auszuruhen.


Sonntag, der 13. März

Nach einem guten amerikanischen Frühstück geht’s auf der Interstate 70 West westwärts. Ich denke an Stills Autobiografie und seine Erzählungen von seiner ersten großen Reise in den Westen. Flache Landschaft mit Wiesen und großräumigen Eichenwäldern. Viele Deutsche und Polen sind deshalb in den Mittleren Westen ausgewandert. Klar – ein Stückchen Heimat. Der Verkehr ist bei max. 110 km/h ungewohnt entspannt.

In Columbia biegen wir nach Norden. Noch zwei Stunden bis Kirksville. Dann noch ein kleiner Hügel und da taucht der Ort mit seinen ca. 17.000 Einwohnern auf. Eine große Enttäuschung: Fast-Food-Lokale, Einkaufzentren, eine traurige Hauptstraße, nur Autos, kaum Fußgänger. Christian meint lächelnd, dass es ihm bei seinem ersten Besuch ebenso ging.

„Der Geist Kirksvilles entfaltet sich langsam, aber mächtig“.

Na ja, denke ich mir ...

Der ältere Stadtteil hat mehr Charme und meine Stimmung bessert sich. Still scheint hier ziemlich präsent zu sein. Ein seltsam großes Gefühl. Ehrfurcht beginnt meine Enttäuschung zu verdrängen. Unsere Unterkunft für die kommenden Tage, das „Travellers Inn“, entpuppt sich als hübsches Ziegelsteingebäude aus den 1920ern. Wir checken ein und machen anschließend den obligatorischen Besuch an Stills Grab. Danach geht’s weiter zum Thousand Finger Lake, einem nahe gelegenen See. Ich spüre zum ersten Mal die immense Bedeutung der Natur in dieser Gegend. Groß, friedlich, weit.
Debora

Montag, der 14. März

Nach dem Frühstück treffen wir Debra Summers im Archiv, dem Heiligtum des Still National Osteopathic Museum (SNOM; heute: Museum of Osteopathic Medicine). Alle Rechercheanfragen laufen über sie. Wir gehen ins Allerheiligste, einen ca. 40 qm großen Raum: Alte Bücher, seltene Dokumente, Handschriften, Briefwechsel, Stills berühmte Gehstöcke. Lebendige Geschichte. Mir verschlägt es den Atem.

Den ganzen Tag blättere ich mich ziellos durch einige Bücher, bis mich Sutherland in den Bann zieht. Debra bringt zwei Kisten mit Material. Ich stöbere sie durch, lese Erstausgaben von The Cranial Bowl und With Thinking Fingers und entdecke viele mir unbekannte Bilder. Ob auch was von Irvin Korr da ist? Kaum gefragt, bringt Debra einige Kisten, die seine Witwe dem Museum zur Verfügung gestellt hat. Seitdem stehen sie ungeordnet im Archiv. „Kein Geld!“, meint Debra trocken. Christian erklärt mir, dass das Geschichtsbewusstsein der Osteopathen in Europa wesentlich ausgeprägter sei als hier in den Vereinigten Staaten. JOLANDOS soll als Teil einer Brücke zwischen dem Museum und Europa dienen. Frau Fuhrmann hat das SNOM zu einer Präsentation auf dem nächsten VOD-Kongress eingeladen. Und weil’s hier gerade so schön passt: Ein großes Dankeschön an den VOD und Christian für diese Reise nach Kirksville!

Die restliche Woche in Kirksville

Zurück zu Korrs Unterlagen: originale Entwürfe, Briefwechsel, wissenschaftliche Abhandlungen, etc. und plötzlich: Ein umfangreiches Manuskript. Es geht um Osteopathie für ältere Menschen. Wie sich bald herausstellt, ist es aus historischer Sicht von herausragender Bedeutung. James McGovern, Präsident der Andrew Tayor Still University (ATSU), der das Kirksville College of Osteopathic Medicine (KCOM) mit seinem Museum untersteht, und seine Frau Rene, Professorin für Neuroverhaltenswissenschaft, erfahren von dem Fund und unterstützen sofort eine Veröffentlichung. JOLANDOS bekommt die Übersetzungsrechte und ich erhalte neben einer Beteiligung den Spitznamen „bloodhound“. So schnell kann man am Rad der Geschichte mitdrehen.

Ich komme auch in den Genuss einer persönlichen Museumsführung durch Jason Haxton, den Direktor. Wieder lasse ich mich von den vielen historischen Unikaten verzaubern und bin ein wenig beschämt über meine Unkenntnis.

Abendessen bei Jasons Schwiegereltern, Roger und Joan. Zuvor begleite ich Roger zum Fischen, denn das Abendessen muss erst gefangen werden. Tags darauf übernachte ich bei Jason und seiner Frau Lori. Überall begegnet mir herzlichste Gastfreundschaft. Alle Menschen sind wohltuend entspannt, tolerant und freundlich. Es herrscht großes Interesse an den Vorgängen in der Welt, man weiß über Deutschland Bescheid, ist wütend auf die eigene Regierung und lästert über die Medien. Volk und Regierung sind zwei Paar Stiefel. Jedenfalls hier in Kirksville.


Samstag, der 19. März

Übervoll von tiefen Eindrücken beschließe ich, auszubrechen und St. Louis einen Besuch abzustatten. Zwischenstopp am Mississippi in Hannibal – Mark Twains Heimatstadt. Dann weiter nach St. Louis. Im Radio guter alter Rock: Stones, Beatles, Hendrix. Der Mittlere Westen hat seinen eigenen Way of Life. Downtown der Blick auf den gigantischen Gateway Arch, ein überdimensionaler Bogen, der das Tor zum Westen symbolisiert. Gemütlich Abhängen und am Abend cooler Blues in einem der vielen Jazz Clubs. Genau das habe ich gebraucht.
Sven

Sonntag, der 20. März

Mit Jason und Christian geht’s ca. 300 km westlich nach Baldwin City. Das Grundstück der dort ansässigen Baker University war ein Geschenk der Still-Familie. Sie lebte hier in den 1850ern. Die Zeit, als Andrew intensiven Kontakt mit den Shawnee-Indianern hatte. Auf den Spuren des jungen Still also. Was ich jetzt fühle, nennt Christian Jagdfieber nach Geschichte. Wir besuchen das Archiv der Universität, die Gräber von Stills Eltern und jener Kinder, die 1864 an Meningitis gestorben waren.


Montag, der 21. März

Ende der einwöchigen Frühlingsferien. Ich nehme am Unterricht des KCOM teil. Prof. Michael Lockwood, Vorsitzender der OMM-Abteilung, leitet erfahren den theoretischen Unterricht in einem Hörsaal vor ca. 130 Studenten des zweiten Semesters. Der Stoff: Anatomie und Physiologie des Vegetativums und Einflüsse manipulativer Behandlungsformen darauf. Der didaktisch-methodische Aufbau des Unterrichts ist glänzend.

Ich nutze die freie Zeit in der OMM-Abteilung, um mich mit verschiedenen Referenten zu unterhalten. Wieder jene interessierte Herzlichkeit, die ich so sehr zu schätzen gelernt habe. Lehrer-Studenten-Hierarchien? Fehlanzeige. Dr. Lockwood nimmt sich ausgiebig Zeit für mich und wir unterhalten uns über die Ausbildung. Acht Jahre Studium und Praxis bis zum D.O.-Titel (Doctor of Osteopathy) und in der Regel ein Kredit über $USD 200.000, um sich das Ganze leisten zu können. Amerikanisches Selbstbewusstsein kann auch gute Gründe haben. Alle müssen hier extrem hart für ihre Ziele arbeiten.

Noch etwas wird mir klar: Osteopathen in den USA sind voll ausgebildete Ärzte, die vorwiegend in Krankenhäusern arbeiten. Wie viel manuelle Techniken würde ich wohl im Krankenhausalltag anwenden? Welches Lager bestimmt, was Osteopathie wirklich ist? Welchen Schnittpunkt gibt es? Geschichte! Versöhnung beginnt in einer Rückbesinnung auf gemeinsame Wurzeln – sofern man Versöhnung wünscht. James Kribs, ein Gastreferent, reißt mich aus meinen Gedanken. Er hat erfahren, dass ich gerne OMM-Techniken praktizieren möchte. Eine freundliche Schülerin muss als Patientin herhalten, da sie über Nackenbeschwerden klagt. Wir besprechen Fall, Anamnese und Behandlungsplan. James untersucht das Becken. Seine Herangehensweise ist sanft. Er findet ein Ilium anterior links und korrigiert es mit einer MET, wobei er mit Gegenspannungen arbeitet. Wir finden ein NSR links der LWS. Wieder MET. Wir finden ein FRS rechts Th 5 und ich wende eine indirekte Sutherland-Technik an. James behandelt ein NSR rechts Th3-Th8 myofaszial. Er benutzt kaum Thrusts, sondern arbeitet viel mit Counterstrain. Auf diese Art behandeln wir auch die Nackenmuskulatur. Viszerale Untersuchungen? Nur bei Hinweisen auf viszerale Spannungen, meint er. Der PRM ist für ihn wichtig und er testet immer den CRI. Ich teste ihn über eine spheno-okzipitale Annäherung, während er seine Hand flächig auf den Arm legt und ihn dort wahrnimmt. Kein Konkurrenzdenken. Fühlt sich alles nach guter partnerschaftlicher Teamarbeit an.


Dienstag, der 22. März

Am Flughafen von Chicago endet unsere gemeinsame Reise. Christian muss nach München, ich nach Frankfurt. Ein herzliches „take care“ und schon geht’s los. Einige Stunden später sehe ich das Eis Grönlands im Mondlicht leuchten und lasse meine Reise Revue passieren: Beeindruckende Menschen, Idealisten der Osteopathie und ihrer Arbeit. Ehrliche Menschlichkeit und jene unverwechselbar lockere Art fast aller Amerikaner. Und dann jene unglaubliche Faszination lebendiger Geschichte. Still war Pionier der Osteopathie. Ich fühle mich wie ein Pionier seines Erbes. Allein dafür hat sich die Reise gelohnt. Unwillkürlich muss ich lächeln:

„Der Geist Kirksvilles entfaltet sich langsam, aber mächtig!“

Ihr
Sven Sutmar ?




Bildquellen

  • Sven Sutmar: Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
  • Debora Summers: Mit freundlicher Genehmigung von Mrs. Summers
  • Sven Sutmar am Grab der Familie Still in Kirksville: