EDITORIAL: Mensch - erkenne dich selbst!


Editorial

Aus dem Newsletter Jul 2021, Nr. 235. © JOLANDOS e.K. 2021

Mensch - erkenne dich selbst


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

Arbeitskräfte waren vor rund 150 Jahren das ‚Gold‘ der Industrialisierung. Massenhafte Ausfälle durch Infektions- und anderen Erkrankungen und kurze Lebensdauer gefährdeten Macht und Gewinn im europäischen Wettkampf der Nationen um die Vorherrschaft in der Welt. Der Erhalt der 'Volksgesundheit' wurde zum obersten Ziel erklärt. Nicht aus medizinisch-ethischer Motivation, sondern aus kühlem Kalkül wurden daher ab Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt sozial(medizinische) Maßnahmen umgesetzt, die Hygiene, Bildung und Ernährung der Bevölkerung in den Ballungszentren förderten.
The
Der Erfolg der so gestärkten Der Erfolg der so gestärkten Konstitution der Menschen war durchschlagend. Die absoluten Fallzahlen der Infektionserkrankungen fielen bis zum Ende des Jahrhunderts dramatisch. Dann erst begann man mit den Massenimpfungen als Folge der schicksalshaften Unterwerfung der Medizin unter die Laborwissenschaften (1). Die große Leistung der Medizin lag also nicht so sehr im Zurückdrängen der Infektionserkrankungen, sondern vielmehr im Verkauf dieser Tatsache als ihren ganz persönlichen Erfolg. (Da passte es gut, dass die Rolle des "Retters gegen das Böse" aufgrund des Machtverlustes der Kirchen Ende des 19. Jhdts. neu vergeben werden musste.)

Die Geschichte lehrt: Es waren konstitutionelles Denken und Handeln, die eine nachhaltige Veränderungen in Bezug auf die Infektionserkrankungen und die 'Volksgesundheit' bewirkten. Und das ist in Zeiten einer Covid–19-SARS–2-Pandemie nicht anders. Wieder sind es vor allem die Lebensumstände und Lebensführung, mit ihrem Einfluss auf unser Immunsystem, welches der Pathogenität ätiologisch zugrunde liegen – nicht das Virus (2). Wäre die Wissenschaft und Politik tatsächlich an einer nachhaltigen Veränderungen der zunehmenden Pandemie-Gefahr interessiert, würde man sich vorrangig um konstitutionelle Faktoren wie Überalterung, Urbanisierung, Globalisierung, Massentierhaltung, würdevolles Sterben etc. und nur begleitend um Impfungen, Masken und 'Stärken des Immunsystems' kümmern. (Gleiches gilt erst recht für die Osteopathie – die sich ja als ganzheitliche Medizin mit Händen versteht.)

Nachhaltiges Denken und Handeln, das sich glaubhaft auf den Menschen und die Menschheit als Ganzes beziehen, sind folglich stets konstitutionell orientiert. Dies setzt aber wiederum eine naturphilosophische Haltung (im antiken Sinn, d.h.: Naturwissenschaft & Philosophie als transdisziplinäre Einheit!) voraus, denn nur in ihr wird das Bild einer holistischen Natur gleichermaßen rational wie auch intuitiv gepflegt (3). Nur in ihr ist der Mensch mit Herz und Verstand integraler Bestandteil der Natur und kein über ihr stehendes und sie abwertendes, aber auch kein sie schwärmerisch romantisierendes Wesen.

Mit dieser Haltung läuft man keiner politisch und ökonomisch versklavten Medizinwissenschaft (4) hinterher, bei denen Gesundheitsfragen zu technischen Problemen, Bilanzpositionen oder Profilierungswerkzeugen medienwirksam verkommen. Andererseits versteigt man sich mit ihr aber auch nicht in 'ver-akademisierter' Philosophie oder einen egoistischen Spiritualismus. Mit ihr nutzt man vielmehr die in uns allen angelegte kindlich-lustvolle Neugier, um sie – ohne dabei ihre enorme Kraft zu mindern – behutsam zu mäßigen und so zu kultivieren. Ziel und Zweck ist allein ihre Kultivierung durch beständige Selbstreflexion. A.T.
Still hat diese Haltung vorgelebt und immer und immer wieder als grundlegend für die Osteopathie erachtet. Nicht er als Person, sondern eben diese naturphilosophische Haltung begründet folglich die Osteopathie! Und folglich legitimiert auch nur sie die glaubhafte Verwendung der Begriffe 'Osteopathie', 'OsteopathIn' und 'osteopathisch'. Aus historisch reflektierter Sicht ist klar: Nur diese naturphilosophische Haltung ist die ursprüngliche und zugleich zeitlose Form der Osteopathie. Titel, gesetzliche Regelungen, Wissen, Erfahrung, Achtsamkeit, Techniken, Methoden, Prinzipien oder Modelle sind wichtige und bedeutende Farben. Aber formlose Farben wirken beliebig, ohne Halt und bedeutungslos.

Menschen mit dieser kindlich-frischen und erwachsen-maßvollen naturphilosophischen Haltung (die in jedem von uns natürlicherweise angelegt ist), interessieren sich nicht für therapeutische, berufspolitische oder religiöse 'Hohlwege'. Ihr eigentliches Ziel ist nicht das Wohl der Patienten, Anerkennung oder das Auflösen des Ichs (ein aufgelöstes Ich ist nicht sozialfähig). Ihr Ziel ist größer. Viel größer. Ihr Ziel ist nicht weniger, als die Selbsterkenntnis. Und das ist ein lebenslanger Prozess:

„Es geht TEXT(Anm.: in der Osteopathie) um ‚Mensch erkenne Dich selbst‘. Wenn Dir dies in fünf Jahren gelingt, machst Du es besser als ich in 35 Jahren.“ (5)

Jedem neugierigen und intelligenten Leser der osteopathischen Quelltexte ist schnell klar, dass es sich bei der Osteopathie um eine Konstitutionsmedizin handelt, die vorwiegend (aber keineswegs ausschließlich) mit den Händen praktiziert wird. Umso verwunderter sucht er die Kultivierung der hierfür notwendigen naturphilosophischen Haltung – und das bedeutet vor allem die Kultivierung der eigenständigen (Selbst)reflexion – in fast allen osteopathischen Schulen.

Er reibt sich verwundert die Augen über eine Forschung, die ebenso hypnotisiert auf die Naturwissenschaften starrt, wie die gelehrte Medizin Ende des 19. Jhdts. Wo, fragt er sich, ist die auf sie mäßig wirkende qualitative, philosophische, historische, soziologische Forschung?

Er erblickt die Berufspolitik und erkennt gequältes Bemühen,'Verwaltungshürden' zu meistern. Er vermisst das selbstbewusste Durchsetzen des Naturphilosophischen im Medizinischen, den begeisterten Widerstand gegen die Unterwerfung unter das Andersartige.

Er liest 'der Mensch als Ganzes' im Sinne von 'der Patient als ganzer Mensch', nicht aber im Sinne von 'Osteopath als ganzer Mensch'. Er liest schillernde Begriffe wie 'biopsychosoziales Modell', erkennt anerkennend das darunter versammelte gelehrte Wissen. Aber wie blutleer ist dieses Wissen! Keine kritischen Selbstreflexionen beleben die fachlich brillanten Inhalte. Keine Leitsätze, nur Prinzipien. Damit ist nicht der Hauch eines 'ganzen Osteopathen' zwischen den Zeilen zu spüren. Osteopathie wird so zur nächstbesten 'Methode', die von ... ja von wem eigentlich ... angewendet wird?

Er schließt: In den Gründertexten der Osteopathie ist die Legitimierung der Begriffs 'Osteopathie', 'Osteopathin' und 'osteopathisch' noch eindeutig: Als primäre Kultivierung der naturphilosophischen Haltung des Osteopathen (Still: 'Erkenne dich selbst.'), aus dem sich sekundär ein vorwiegend mit den Händen konstitutionsmedizinischen Handeln ergibt (Osteopathie). Und er fragt sich zurecht: Ist die Verwendung besagter Begriffe in der gegenwärtigen Osteopathie überhaupt legitim?


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
kontakt@jolandos.de


Quellennachweise

Bildquellen

  • The silent highway man: Punch Magazine. Vol 35, p. 137, 1858.
  • Still klettert im Baum: Mit freundlicher Genehmigung des Museum of Osteopathic Medicine, Kirksville, MO. ID: 1985.1001.07.