EDITORIAL: Läsion ist nicht gleich somatische Dysfunktion


Editorial

Aus dem Newsletter April 2017, © JOLANDOS e.K. 202173

Läsion ist nicht gleich somatische Dysfunktion


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

vom Philosophen und Kenner der Still-Texte/a> Andreas Grimm habe ich gelernt, wie wichtig Begriffsklärung für die Osteopathie ist. Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel geben: Es geht um den von Still geprägten Begriff der Läsion und den in der modernen Osteopathie zentral verwendeten Begriff somatische Dysfunktion, der als (angebliche) Weiterentwicklung des Läsions-Begriffs gelehrt wird. Legen wir los:


LÄSION

Folgende Definition habe ich nach einer Stichwortsuche Läsion innerhalb sämtlicher mir zugänglicher literarischer Quellen Stills verfasst. Sie ist damit jederzeit überprüfbar:

Ursache im anatomischen Bereich, die über eine direkte oder indirekte Behinderung des freien Fließens der Körperflüssigkeiten zum Verlust von Gesundheit führt.

Wichtige Hintergrundinformationen hierzu:

Die indirekte Behinderung betrifft Irritationen vasoaktiver Nerven, v.a. im Bereich der Ganglien und auf Segmentebene.

Das freie Fließen der (physikalischen, nicht ‚fluidalen’) Körperflüssigkeiten ist (A) Grundlage für die Funktionsfähigkeit der Informationssysteme (B) im lebenden Organismus (stofflich-physikalisch = Blutkreislauf & interstitielle Zirkulation / nichtstofflich-physikalisch = Nervensysteme).

Diese Informationssysteme steuern die Entfaltung sämtlicher physiologischer Prozesse (C).

Der Entfaltungsgrad der physiologischen Prozesse bestimmt den Zustand eines lebenden Gewebes, Organs oder Menschen (gesund/krank) (D).


SOMATSICHE DYSFUNKTION

Hier die von mir aus dem Englischen übersetzte aktuelle Wikipedia-Definition:

„Beeinträchtigte oder veränderte Funktion kooperierender Komponenten des Körpers (Soma). Diese beinhalten: Skelett-, Gelenk- und myofasziale Strukturen und deren zugehörige vaskuläre, lymphatische und neuronale Elemente.“ (1)

Vergleichen Sie nun in aller Ruhe beide Definitionen, bevor Sie weiterlesen.

Fertig? Sind Ihnen folgende Unterschiede auch aufgefallen?

Stills Läsion bezeichnet eindeutig eine Ursache, die somatische Dysfunktion hingegen lediglich die Folge (veränderte Funktion und die davon betroffenen Strukturen) einer nicht benannten Ursache. Das hat enorme Konsequenzen: Wer somatische Dysfunktionen behandelt, behandelt somit unmittelbar symptomatisch – und damit nicht osteopathisch!

Stills Läsionsbegriff bezeichnet im Gegensatz zu seinem 'Nachfolgebegriff' ein von der Ursache bis zum Zustand logisch geschlossenes Gesundheits-/ Krankheitsmodell (A => B => C => D).

Stills Läsionsbegriff ist eher gesundheitsorientiert, da bei ihm das Primärmedium zur Entfaltung der Gesundheit im Fokus steht (fließende Körperflüssigkeiten). Bei der somatischen Dysfunktion stehen betroffene Gewebe im Fokus; dieser Begriff ist somit krankheitsorientiert.


FAZIT

Der Begriff somatische Dysfunktion ist krankheitsorientiert und symptomatisch. Dennoch wird er in der osteopathischen Lehre zentral verwendet. Wen wundert’s, dass Philosophie in der ‚Mainstream’-Osteopathie einen schweren Stand hat... 😉


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
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