EDITORIAL: Jeder ist der Wichtigste!


Editorial

Aus dem Newsletter Okt 2022, Nr. 240. © JOLANDOS e.K. 2022

Jeder ist der Wichtigste!


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

ich kann mich noch sehr gut an den überwältigenden Eindruck bei meiner ersten OP-Assistenz als Famulant erinnern. Besonders faszinierend fand ich die ruhige und professionelle Art in der das OP-Teams hocheffizient arbeitete. Alles lief wie ein leise tickendes Uhrwerk in dem alle Rädchen perfekt ineinander griffen. Und so war es in den meisten OP-Teams, in denen ich später mitwirken sollte. Das warf für mich eine Frage auf: wie gelang so unterschiedlichen Persönlichkeiten derartig erfolgreiche Teams zu bilden?

Ich schloss, dass äußerliche Gegebenheiten sowie Wissen, Können und Erfahrung der Beteiligten zwar wichtig, aber nur von sekundärer Bedeutung sind. Um als Individuen koordiniert handeln zu können, bedarf es eines alles durchdringenden ‚master minds‘. Er entsteht, wenn alle Teammitglieder ihre Individualität einem gemeinsamen Projekt bedingungslos unterordnen. Jeder im Team achtet während dieser Zeit alle anderen als gleichwertig und jeder respektiert deren Ansichten als grundsätzlich gleichberechtigt. Egoismus"

In den OP-Teams konnte ich diesen ‚master mind‘ jedenfalls deutlich spüren und die gemeinsam zu erfüllende Aufgabe – die Operation der PatientInnen – hatte dadurch absolute Priorität. Meinungsdifferenzen wurden außerhalb des OP-Saals in Teambesprechungen ruhig und sachlich erörtert. Überall wurde eine unausgesprochene Maxime gelebt: In unserem Team ist jeder der Wichtigste! Diese Maxime und damit die Teamfähigkeit werden tagtäglich im OP-Saal ein- und ausgeübt, an der Wirklichkeit erprobt und damit laufend geschult.

Völlig anders sieht es in der Osteopathie aus. Hier besteht der Praxisalltag fast ausnahmslos aus 1:1-Settings. Nicht Teamfähigkeit, sondern Individualität ist gefragt. Und wie der OP-Alltag das Teambewusstsein schult, so formt der osteopathische Praxisalltag eine starke Individualität. Soweit so gut... Was aber, wenn in der Osteopathie jenseits des Praxisalltags Situationen entstehen, die Teamarbeit erfordern? Nehmen wir eine Schule, die ihren Lehrplan im Zusammenwirken aller Fakultätsmitglieder wieder stärker an A.T. Stills Philosophie der Osteopathie neu ausrichten möchte. Oder denken wir an das hypothetische Bemühen osteopathischer Verbände Stills Philosophie der Osteopathie wissenschaftlich zu erarbeiten, um die Identität der gegenwärtigen Osteopathie endlich auf ein historisch solides Fundament zu stellen. Im Kern beider Szenarien geht es um das Erarbeiten von A.T. Stills Philosophie der Osteopathie im Team. Gewöhnlich versammeln sich bei dieser Aufgabenstellung erfahrene OsteopathInnen, um den Sachverhalt gemeinsam zu erörtern. Dabei werden regelhaft zwei Sachverhalte übersehen:

  1. Bis heute existiert keine wissenschaftliche Erarbeitung der Inhalte von Stills Texten. Dies führt dazu, dass gerade erfahrene OsteopathInnen ihre ganz persönliche Philosophie der Osteopathie Stills konstruieren, zu der sie nicht selten ein geradezu erotisches Verhältnis entwickeln. Entsprechend werden alternative Sichtweisen unbewusst als persönliche Angriffe empfunden. Die Folge: Der Fokus der versammelten OsteopathInnen liegt von Beginn an nicht auf dem kritischen Erarbeiten von Stills Philosophie der Osteopathie, sondern auf dem Wahren eigener Positionen. Ein ‚master mind‘ im o.a. Sinn ist damit undenkbar und der Austausch gleicht von Beginn an einem politischen Schachspiel. In der Sache können so kaum substanzielle Ergebnisse geliefert werden.
  2. Erfahrene OsteopathInnen setzen ‚Philosophie der Osteopathie‘ gerne mit ‚klinischer Osteopathie‘ gleich. Dies führt zu dem Trugschluss, ausschließlich erfahrene OsteopathInnen wären in der Lage, Inhalte und Bedeutung von Stills Philosophie der Osteopathie kompetent beurteilen zu können. Mit den Ursprungstexten vertraute Nicht-OsteopathInnen werden konsequenterweise ignoriert. Dabei wird übersehen, dass die Philosophie (der Osteopathie) der rein theoretische Überbau ist, aus dem sich die praktizierte Osteopathie ableitet. Um sie zu verstehen, bedarf es folglich keinerlei praktischer Erfahrungen, sondern eines interessierten und historisch reflektierten Verstandes. (So wie auch nicht-musizierende Musikwissenschaftler aufgrund ihres umfassenden theoretischen Wissens eine bessere Expertise zur Musik als Ganzes besitzen, als praktizierende Musiker). Dies gilt für Stills Philosophie der Osteopathie umso mehr, als hierzu historisch reflektierte und philosophisch kundige Intensivstudium seiner Texte nötig ist.

Und so erfinden die erfahrenen OsteopathInnen immer neue (und für die persönliche Philosophie der Osteopathie der Beteiligten ungefährliche) Bereiche, Prinzipien und Modelle und summieren diese banal zur nächstbesten ‚Philosophie der Osteopathie‘. (Der vernünftigere Weg wäre natürlich quellenbasiert zuerst Stills Philosophie der Osteopathie zu bestimmen, um anschließend daraus Prinzipien etc. abzuleiten). So entstehen immer neue Pseudo-Identitäten der Osteopathie, die das heutiges Identitätschaos begründen. Wie soll dabei der Anschluss an einen ordentlichen Wissenschaftsbetrieb gelingen? Wie ein vernünftiger Austausch über Osteopathie? Wie eine vernünftige Weiterentwicklung der Osteopathie als Ganzes? Fallschirmspringer-Team"

Aber es kommt Bewegung in die Sache. Durch die aktuellen Krisen zum Umdenken gezwungen, beginnen einige Schulen über einen radikalen Kurswechsel nachzudenken. Man will den Lehrplan wieder stärker an A.T. Stills Philosophie der Osteopathie anlehnen. Mit der dadurch gewonnenen höheren Authentizität verspricht man sich eine Belebung des 'Schulgeists' und eine bessere Marktposition. Neu dabei: Die Einsicht in die bisher im Editorial beschriebene Problematik. Die Konsequenz: alle Mitglieder der Schulleitung und der Lehrerschaft sitzen von Beginn an zusammen mit externen historisch-philosophisch geschulten Experten gleichberechtigt an einem Tisch. Dabei sind es gerade die Externen, von denen man am meisten profitiert, denn durch sie gelangt man nicht nur an Informationen zu Stills Philosophie der Osteopathie, die innerhalb der Osteopathiewelt noch nicht bekannt waren. Eben weil sich die Externen der individualistischen Prägung der OsteopathInnen bewusst sind, können sie darüber hinaus und insbesondere zu Beginn des gemeinsamen Prozesses für die optimalen Rahmenbedingungen sorgen (Stichwort: ‚master mind‘), innerhalb derer in einem zweiten Schritt eine Teambildung und damit im dritten Schritt die ernsthafte Beschäftigung mit der Sache überhaupt erst möglich wird.

Bisher gehen erst ein paar osteopathische Institutionen diesen radikalen und mutigen Schritt. Aber wer weiß, Krisenzeiten haben immer neue Epochen begründet und vielleicht beginnt eine solche nun auch für die Osteopathie. Eine, in der man Abschied nimmt von den Vorgaben einzelner Autoritäten, um jenes goldene Motte zu leben und erleben, das allen produktiven und effizienten Teams zugrunde liegt: Jeder ist der Wichtigste!


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
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