EDITORIAL: HWS-Manipulationen – Risiko & Nutzen


Editorial

Aus dem Newsletter Jan/Feb 2020, © JOLANDOS e.K. 2020

HWS-Manipulationen – Risiko & Nutzen


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

Viele Osteopathen sind der Ansicht, dass HWS-Manipulationen mit geringer Amplitude (HVLA-Techniken) sehr effektiv und bei sachgemäßer Ausführung ungefährlich seien. Wissenschaftlich ist dies aber keineswegs fundiert. Und da immer wieder Therapeuten aufgrund von Komplikationen nach HWS-Manipulationen verurteilt werden (1), widme ich das erste Newsletter-Editorial 2020 dem Thema Risiko und Nutzen der HWS-Manipulationen. Beginnen wir mit einem Blick in die Wissenschaft:


RISIKEN

Bereits 1956 vermutete man einen Zusammenhang zwischen HWS-Manipulation und Schlaganfällen (2). Seit Mitte der 1970er häufen sich die Studien und zwischen 2017 und 2019 wurden mehrere Übersichtsstudien verfasst.(3, 4, 5, 6, 7) Die zugrunde liegende Überlegung dazu lautet: Durch die manipulativ verursachten Strains der zervikalen Gewebe,

  • kann die nur eine Zellschicht dicke Intima der A. vertebralis rupturieren.
  • können Aneurysmen an der A. vertebralis entstehen.
  • kann es zu intramuralen Blutungen innerhalb der Gefäßwand der A. vertebralis kommen.

Alle drei Ereignisse beschreiben Formen cervikaler Arteriendissektionen (CAD). Sie bewirken Verwirbelungen des vorbei fließenden Blutes und fördern so die Thrombenbildung. Diese Thromben können schließlich unmittelbar, oder Tage, Wochen, Monate bzw. Jahre nach der Manipulation 'schießen' und einen Schlaganfall verursachen.

Aus den bereits erwähnten Übersichtsstudien können zwei Hauptergebnisse abgeleitet werden:

Die meisten gesichteten Studien weisen einen hohen Bias auf und sind kaum aussagekräftig. Ein Kausalzusammenhang zwischen HWS-Manipulationen und Schlaganfällen kann weder bewiesen, noch widerlegt werden. (3, 4, 5, 6, 7)


NUTZEN

Es existiert nur eine Studie zum Nutzen von WS-Manipulationen, die auch hohen Wissenschaftsansprüchen genügt. (8) In ihr wird 2016 die Wirksamkeit von HVLA-Techniken untersucht, die bei Migränepatienten spinal appliziert wurden. Ein wesentliches Fazit der Studie

"Die Wirkung chiropraktisch manipulativer Therapie an der Wirbelsäule ist wahrscheinlich bedingt durch den Placeboeffekt." (8)

Zwei Anmerkungen zur Studie:

Der Anteil der HWS-Manipulationen wird nicht explizit erwähnt. Bei dem Beschwerdebild ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Manipulationen zervikal durchgeführt wurden. Die Studie bezieht sich auf chiropraktische HVLA-Techniken. Diese entsprechen den osteopathischen HVLA-Techniken.


GEDANKEN

Die Aussage "Richtig gemacht ist das völlig ungefährlich" verharmlost also ein sehr ernstes Thema. Ja, es stimmt, dass kein Zusammenhang zwischen HWS-Manipulationen und Schlaganfällen nachgewiesen werden konnte, aber – und dies ist entscheidend – der Zusammenhang konnte auch nicht widerlegt werden. Die Korrelation streut in den Einzelstudien zwischen 1 : 2.000.000 und 1,3 : 1000 (jede 750te Behandlung!). Auch die Tatsache, dass der häufigste Grund für Schlaganfälle bei jungen Erwachsenen bis 55 Jahre CAD ist, müsste selbst eingefleischte Manipulierer zumindest ein wenig nachdenklich machen.

Es stimmt auch, dass die Wahrscheinlichkeit mit einer HVLA-Technik eine CAD zu verursachen, rein theoretisch geringer ist, als bei großräumigen HWS-Manipulationen. Daraus eine absolute praktische Sicherheit abzuleiten, wäre hingegen falsch und sogar fahrlässig.

Manchmal hört man auch Meinungen wie etwa:

"Bei mir ist noch nie was passiert und ich habe schon tausende Patienten behandelt."

Da nach einem CAD die Thrombenbildungs- und -lösungzeiträume individuell unterschiedlich sind, können Schlaganfälle entsprechend verzögert auftreten. Zudem kommen Patienten, die nach Behandlungen entsprechende neurologische Beschwerden haben, normalerweise nicht wieder. Sie werden im Therapeutengedächtnis aber gerne als 'erfolgreich behandelt' abgespeichert.

"Autofahren ist auch gefährlich." (Habe ich wirklich schon gehört!)

Wer dieses Argument vorbringt, ignoriert den therapeutischen Grundsatz 'nihil nocere' (Nicht schaden!), nimmt damit vorsätzlich eine mögliche Schädigung von Patienten schulterzuckend in Kauf und hat sich folglich als Therapeut disqualifiziert.

"Dann darf ich ja gar nicht mehr an der HWS manipulieren."

Sie dürfen. Aber seien Sie sich bewusst, dass der Nutzen bei unkalkulierbarem Restrisiko nur gering ist.


EMPFEHLUNGEN

Aus dem bisher Gesagten, ergeben sich einige Empfehlungen:

Erstellen eines Nutzen-Risiko-Protokolls bei der Anamnese!

Erfassen Sie möglichst alle Risikofaktoren für die Gefäßwände, wie allgemeine Bindegewebsschwäche, bekannte Aneurysmen, Arteriosklerose, hormonelle Einflüsse (z.B. Schwangerschaft!), Migräne (erhöhtes CAD-Risiko), jegliche Hinweise auf apoplektische Geschehen, fortgeschrittenes Alter, etc. Trifft einer dieser Punkte zu, ist eine HWS-Manipulation kontraindiziert. Notieren Sie zusätzlich neurologische Symptome vor, während und nach der Manipulation. Unterlassen Sie eine entsprechende Befundung, kann es Ihnen leicht ergehen, wie diesem belgischen Osteopathen im vergangenen Jahr (1).

Schriftliche Aufklärung!

Da ein Zusammenhang zwischen HWS-Manipulation und Schlaganfall nicht ausgeschlossen werden konnte, müssen Patienten über ein mögliches Schlaganfall-Restrisiko aufgeklärt werden.

Verdachtsfälle sofort melden!

Die Gesundheit der Patienten hat Vorrang vor persönlichen Konsequenzen. Selbst beim geringsten Verdacht, durch HWS-Manipulationen einen Schlaganfall begünstigt oder sogar ausgelöst zu haben, ist eine rasche neurologische/radiologische Abklärung indiziert. Ansonsten macht man sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig.


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
kontakt@jolandos.de


Quellennachweise

(1) Neue Züricher Zeitung: https://www.osteopathie-schule.de/schlaganfall-und-osteopathie/ (abger. am 23.01.20)
(2) Schwarz GA, et al. Posterior inferior cerebellar artery syndrome of Wallenberg after chiropractic manipulation. In: AMA Arch Intern Med. 1956 Mar;97(3):352-4. DOI: 10.1001/archinte.1956.00250210098009
(3) Chaibi A, et al. A risk-benefit assessment strategy to exclude cervical artery dissection in spinal manual-therapy: a comprehensive review. In: Ann Med. 2019 Mar;51(2):118-127. doi: 10.1080/07853890.2019.1590627. Epub 2019 Apr 6.
(4) Kranenburg HA, et al. Adverse events associated with the use of cervical spine manipulation or mobilization and patient characteristics: A systematic review. In: Musculoskelet Sci Pract. 2017 Apr;28:32-38. doi: 10.1016/j.msksp.2017.01.008. Epub 2017 Jan 23.
(5) Haynes MJ, et al. Assessing the risk of stroke from neck manipulation: a systematic review. In: Int J Clin Pract. 2012 Oct;66(10):940-7. doi: 10.1111/j.1742-1241.2012.03004.x.
(6) Swait G, et al. What are the risks of manual treatment of the spine? A scoping review for clinicians. In: Chiropr Man Therap. 2017 Dec 7;25:37. doi: 10.1186/s12998-017-0168-5. eCollection 2017.
(7) Biller J, et al. Cervical arterial dissections and association with cervical manipulative therapy: a statement for healthcare professionals from the american heart association/american stroke association. In: Stroke. 2014 Oct;45(10):3155-74. doi: 10.1161/STR.0000000000000016. Epub 2014 Aug 7.
(8) Chaibia J., et al. Chiropractic spinal manipulative therapy for migraine: a three-armed, single-blinded, placebo, randomized controlled trial. In: European Journal of Neurology. 2016 , 0: 1–11. doi:10.1111/ene.13166.


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