EDITORIAL: Die WHO-Prinzipien der Osteopathie – ein kritischer Blick


Editorial

Aus dem Newsletter Jan/Feb 2018, © JOLANDOS e.K. 2018

Die WHO-Prinzipien der Osteopathie – ein kritischer Blick


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

In diesem Newsletter geht es um jene Kernprinzipien, die A.T. Still zugeschrieben werden und mit der die Osteopathie weltweit ihre Identität begründet (1):

  • Der Mensch ist eine dynamische Funktionseinheit, dessen Gesundheitszustand vom Körper, dem Geist und der Seele beeinflusst werden;
  • der Körper besitzt selbstregulatorische Mechanismen und natürliche Selbstheilung
  • Struktur und Funktion stehen auf allen Ebenen des menschlichen Körpers in Wechselbeziehung.

Knackig und überzeugend, nicht wahr? Das Problem ist nur: Sollten Kritiker Inhalt und Entstehungsgeschichte ein wenig genauer unter die Lupe nehmen, trübt sich die Leuchtkraft doch ein wenig:

Die beschriebenen Prinzipien sind seit der Antike bekannt (z.B: vis medcatrix naturae als das Selbstheilungsprinzip) und tauchen im medizinischen Kontext der letzten Jahrtausende immer wieder in unterschiedlichsten Ansätzen auf. Damit lässt sich kein Alleinstellungsmerkmal für die Osteopathie begründen.

A.T. Still erwähnt tatsächlich einen 'triune man', meint damit aber mind, matter und motion. Unter mind versteht er den Verstand oder die Vernunft und unter motion den Ausdruck jener rätselhaften Schnittstelle, die bei Still im Zentrum seiner Philosophie der Osteopathie stand: Das Leben selbst als eigenständige Substanz (die Seele erwähnt Still nur an zwei Textstellen und nicht im Kontext der Ganzheitlichkeit). Osteopathie unterscheidet sich daher von der orthodoxen Medizin, da sie einen vitalistischen Ansatz vertritt.

Neben der Struktur spricht Still auch von Form, die er der Struktur überordet. Korrekt müsste es also heißen Form, Struktur und Funktion stehen in einer Wechselbeziehung.

Das erste Prinzip beschreibt eine umfassende Ganzheitlichkeit, wohingegen das dritte Prinzip sich nur auf den Körper bezieht. Was ist mit der Psyche? Gibt es dort keine strukturellen und funktionellen Aspekte? Zudem benennt Still diese Wechselwirkung stets im Zusammenhang mit der zentralen Bedeutung des Lebens als intelligenten Vermittler und zugleich Werk einer dem Menschen übergeordneten schöpferischen Instanz. Kein Wort hiervon in den oben genannten Prinzipien. Vielleicht weil es zu 'unwissenschaftlich' klingt?

Heilt der Körper sich selbst, wozu braucht man dann Osteopathen überhaupt? Still denkt dies konsequent zu Ende und beschreibt den Osteopathen nicht als medizinisch heilenden 'Macher', sondern lediglich als philosophischen Kunsthandwerker, der Anpassungen an der Form vornimmt. Das wäre doch ein Alleinstellungsmerkmal?

Die Erarbeitung der Prinzipien erfolgte von der American Osteopathic Association (AOA) in den 1950ern aufgrund der berufspolitischen Notwendigkeit, sich von der orthodoxen Medizin abzugrenzen, ohne dabei Anerkennung (und entsprechende Vergütung) innerhalb des medizinisch geprägten Gesundheitssystems einzubüßen. So wurden Stills Texte 'konform' gefiltert und interpretiert. Die nach Still für die Osteopathie essenziellen philosophischen Aspekte, aber auch die spirituellen Komponenten wurden nicht berücksichtigt (primär philosophische Haltung des Osteopathen, vitalistischer Ansatz, Akzeptanz einer höheren, wohlwollenden und von Vernunft geprägten 'Heilinstanz', etc.).


FAZIT

Die Prinzipien entpuppen sich bei kritischer Betrachtung als faules bzw. halbgares Gemüse. Die als 'Fortschritt' von Stills Ansatz verkauften Prinzipien sind in Wahrheit eine 'Entkernung' der ursprünglichen Osteopathie. Mehr hierzu und vor allem zur Bedeutung des philosophischen Aspektes finden Sie in Gedanken zu A.T. Stills Philosophie der Osteopathie.

Vielleicht sollte man zumindest im deutschsprachigen Raum den Versuch der AOA wiederholen, aber dieses Mal ohne Konformitätsabsichten. An fehlenden Quellen soll es nicht scheitern. Diese liefert JOLANDOS schon seit 20 Jahren.


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
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Quellennachweise

Bildquellen

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