EDITORIAL: Auf Littlejohns Spuren in London


Editorial

Aus dem Newsletter Jan 2019, © JOLANDOS e.K. 202193

Auf Littlejohns Spuren in London


Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

herzlich Willkommen im Jahr 2019 - ein besonderes Jahr für JOLANDOS!

Zunächst möchte ich Sie aber auf eine spannende Reise nach London mitnehmen. Dort haben Jane Stark und ich Ende Januar zwei Tage lang in der Wellcome Collection unveröffentlichte Dokumente aus den ehemaligen Archiven der British School of Osteopathy (BSO) gesichtet.

Besonders faszinierend: Ein unveröffentlichtes Unterrichtsskript vom Gründer der BSO, J.M. Littlejohn, mit dem Titel The Fundamental Principles of Diet (ca. 1927). Hier wird Ernährung und Stoffwechsel, sowohl auf zellular-biochemischer, als auch auf neurophysiologischer Ebene umfassend beschrieben. Somatoviszerale, bzw. viszerosomatische Reflexverbindungen, die zentrale Bedeutung der vasoaktiven Effekte auf Basis viszerosensorischer Impulse... komplexe anatomisch-physiologische Zusammenhänge vom Allerfeinsten.
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Und vor allem: Hier findet man umfassende Erklärungen dafür, wie somatische Impulse (z.B. durch osteopathische Techniken), mit metabolischen bzw. nutritiven Prozessen im Körper zusammenhängen. Reflektiert man den Inhalt des Skripts in Hinblick auf die moderne Osteopathie, ergeben sich einige kritische Fragen:

  • Kein modernes Osteopathie-Buch begründet die oben beschriebenen Zusammenhänge so brillant und detailliert auf anatomisch-physiologischer Ebene, eingebettet in die Grundprinzipien der ursprünglichen Osteopathie. Wenn Osteopathie sich als "ganzheitlich" präsentiert, warum wird dann nicht intensiver auf den Bereich Ernährung, Metabolismus, Biochemie, etc. im somatoviszeralen Kontext eingegangen?
  • Das Dokument belegt auf neurophysiologischer Basis den primären osteopathischen Zugang zu der Viszera über das parietale System. Kann es sein, dass die viszerale Säule in der Osteopathie aufgrund mangelnder Beschäftigung mit dieser Position der ursprünglichen Osteopathie entstanden ist? Begünstigt viszerale Osteopathie nicht eine 'Lokalisierung' bzw. 'Regionalisierung' des Denkens, das im Gegensatz dem komplexen Denken in der ursprünglichen Osteopathie im Sinne von Informationssystemen (=> neurophysiologische Verbindungen) steht? Wie genau begründet man die Entwicklung des therapeutischen Ansatzes, weg von den Schaltzentralen an der Wirbelsäule (ursprüngliche Osteopathie), hin zu den 'Filialen' der Peripherie (moderne viszerale Osteopathie)?
  • Usprüngliche Osteopathie folgte streng der Prämisse 'I have to understand it, to feel it!', nicht 'hands on' und auch nicht 'I have to feel it, to know it!'. Die letzten beiden Prämissen verdrängen die ursprünglich primäre Bedeutung des rationalen Reflektierens und damit des (selbst)kritischen Nachdenkens. Besonders kritisch erscheint dies im Licht moderner Kognitionswissenschaft. Dort konnte man nachweisen, dass das Ausmaß echter 'Intuition' davon abhängt, wie umfassend man sich mit einer Sache kognitiv (also vernunftorientiert) auseinandersetzt. Tut man dies nicht, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit zur Verwechslung von Intuition mit autosuggestiven Phänomenen.

    Bereits A.T. Still weist in seinen Büchern immer und immer wieder auf die zentrale Bedeutung der Vernunft in der Osteopathie hin. Warum hört man hiervon so gut wie gar nichts in der modernen Osteopathie? Wie begründet man das Weglassen dieses Vernunfts-Aspektes didaktisch?

Neugierige Fragen, die sich aus historischen Reflexionen zur Osteopathie ergeben.

In den 'Londoner Schachteln' gab es aber noch viele weitere Schätze, über die man Dutzende von Büchern schreiben könnte. Bücher, mit Erkenntnissen, die die moderne Osteopathie enorm bereichern könnten. Historische reflektierte Osteopathie ist ein riesiger Ozean, der auf seine Entdeckung wartet.


Ihr

Christian Hartmann
Christian Hartmann
kontakt@jolandos.de


Bildquellen

  • C. Hartmann & J. Stark in Wellcome Library, London: © C. Hartmann, 2019