EDITORIAL: Osteopathie quo vadis - Teil 2: Die große Brücke – Ursprüngliche Philosophie der Osteopathie



JOLANDOS-Newsletter

Juli 2024, Nr. 247

Editorial
Osteopathie - quo vadis 

Teil 2: Die große Brücke – Ursprüngliche Philosophie der Osteopathie

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Liebe Freundinnen und Freunde der Osteopathie,

 

im letzten Editorial habe ich einen möglichen Wandel vom kompetitiven zum kooperativen Denken und Handeln im Rahmen der digitalen Informationsrevolution historisch zu begründen versucht. Wie sich dieser Wandel im Heilwesen auswirken könnte, habe ich an zwei Beispielen veranschaulicht. In diesem Editorial werde ich nun in diesem Zusammenhang die Bedeutung der ursprünglichen Philosophie der Osteopathie beleuchten.

 

Machen wir uns zunächst klar, dass kulturelle und geistige Wandlungsprozesse ineinander verschränkt sind. Informationsrevolutionen stellen daher stets unser Weltbild und mit ihm unser Menschenbild, Identitäten, Rollenbilder etc. in Frage. Verunsicherung und instinktive Reaktionen wie Flucht, Dogmatismus oder Ignoranz sind häufig die Folge. Historisch am einflussreichsten und langlebigsten erweist sich hingegen die aktive und zeitgemäße Mitgestaltung der Zukunft.

 

Hierzu bedarf es aber zeitgemäßer Kompetenzen. Und da Wandlungsprozesse während Informationsrevolutionen alle Lebensbereiche und damit das ganze Wesen des Menschen betreffen, geht es um wesentliche Kompetenzen, die sich auf grundlegende geistig-emotionale Aspekte des Menschen beziehen: Weltsicht, Weltverhältnis, innere Haltung, Motivation etc. Sie bilden die wesentliche Grundlage für unser äußeres Handeln, welches seinerseits spezifische Kompetenzen, wie Fachwissen, handwerklichem Geschick, Erfahrung etc. erfordert.

 

Im Umkehrschluss heißt das konkret für die Osteopathie: Nicht die spezifischen Kompetenzen (osteopathisches Wissen, handwerkliches Können, Erfahrung, Behandlungserfolge etc.) entscheiden über die Zukunftsfähigkeit der Osteopathie, sondern die ihnen zugrundeliegenden und im Handeln aktiv vertretenden wesentlichen Kompetenzen. Dies wirft drei wichtige Fragen auf:
 

  • Welche wesentlichen Kompetenzen sind zeitgemäß?

    Die Kernbegriffe der aktuellen Informationsrevolution weisen uns hier den Weg: interdisziplinär, flache Hierarchien, dezentral, Netzwerk, Austausch, holistisch, komplex, integrativ, multikausal etc.

 

  • Was sind die wesentlichen Kompetenzen der gegenwärtigen Osteopathie?

    Hier empfiehlt sich die Aufsplittung in konkretere Fragen: Werden vertikal-autoritäre oder flach-vernetzende Hierarchien gelebt? Sucht man aktiv interdisziplinäre Vernetzungen? Sucht man den interessierten Austausch mit Andersdenkenden zur eigenen Weiterentwicklung? Wie offen, aufklärend und selbstkritisch ist die interne Kommunikationen zwischen FunktionärInnen, LehrerInnen, TherapeutInnen, StudentInnen? Existiert ein allgemeingültiger und vernetzt gepflegter Lehrplan? Steht man im gegenseitigen Austausch mit der Wissenschaftswelt? Verfolgt man berufspolitisch kompetitive oder kooperative Ziele? Geht es um gute therapeutische Vernetzung oder Sicherung von Behandlungsmonopolen? etc.

    Die gegenwärtige Osteopathie erscheint hier gespalten: Während auf individueller Ebene im Praxisalltag das kooperative Denken und Handeln präsenter scheint, dominiert mit Zunahme der Institutionalisierung kompetitives Verhalten nicht nur nach Außen – was noch verständlich wäre – sondern insbesondere innerhalb der Osteopathie. Die Symptome: Fehlen einer einheitlichen Identität, Fehlen eines international einheitlichen Lehrplans, Fehlen eines gegenseitigen Austauschs mit der Wissenschaftswelt etc.

 

  • Ist Osteopathie zukunftsfähig?

    Da die Entwicklung der Osteopathie nicht von den klinisch arbeitenden OsteopathInnen und ihren Behandlungserfolgen, sondern der institutionellen Osteopathie bestimmt wird, ist das Antwort eindeutig: Nein.

 

Dieser Befund erscheint paradox, sind bedeutende Ursprungstexte der Osteopathie doch geradezu durchdrungen von insterdisziplinärer Offenheit, dynamischer Weiterentwicklung, Aufruf zum kritischen und vernünftigen Austausch, flachen Hierarchien etc. Hier nur einige wenige Beispiele, die diese Hypothese untermauern sollen:

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„Das Ziel dieser Einrichtung ist es, ein College für Osteopathie einzurichten, dessen Plan darin besteht, die bestehenden Systeme der Chirurgie, der Geburtshilfe und allgemeinen Behandlung von Krankheiten zu verbessern, und sie auf eine rationalere und wissenschaftlichere Basis zu stellen sowie die Informationen an die medizinische Profession weiterzugeben.“ (AT Still, StK, S. I-66.)


Anm.: Hier handelt es sich um nicht weniger, als den dritten Satzungsartikel der ersten Osteopathie-Schule der Welt. Ein klares Bekenntnis zu Offenheit und Austausch mit der Schulmedizin, Wissenschaftswelt, sowie vernünftiger und kritischer Kooperation und Vernetzung.


„Ich hatte in jener Zeit großes Vertrauen in die Ehrbarkeit meines Predigers und jener Ärzte und ich habe dieses Vertrauen nicht verloren. Gott weiß, sie taten, was sie für das Beste hielten." (AT Still, StK, S. 139.)


Anm.: Dieses Zitat bezieht sich auf zwei Ärzte und einen Priester, die 1864 Stills drei an Meningitis erkrankte Kinder spekulativ behandelt hatten (alle drei Kinder verstarben). Selbst in dieser Extremsituation finden sich keine abgrenzenden und abwertenden Aussagen. Die Tür ist und bleibt offen – bedingungslos und auch gegenüber Andersdenkenden.


„Unabhängig von seinem jeweiligen Thema, kümmert sich der ursprüngliche Denker nicht um die so genannte Autorität in Vergangenheit oder Gegenwart.“ (AT Still, StK, S. IV-202)

Anm.: Hier wird das philosophische Ideal Wahrheitssuche angemahnt. Es geht um die Sache, nicht die Person. Mit dem Ausdruck 'so genannte' wird das unmissverständlich ausgedrückt. Dies entspricht einer grundsätzlich offen-skeptischen Haltung gegenüber allen Theorien, egal von wem sie stammen und egal wie anerkannt sie sind. Das ist allerbeste interdisziplinäre Wissenschaftskultur!


"Mache nichts, nur weil du mich oder Dr. Hildreth oder Harry es machen siehst. Dir wurde ein Gehirn gegeben, damit du es benutzt und das must du erkennen, wenn du erfolgreich sein willst." (E. Booth, p. 493., Dt. Übers. v. C. Hartmann)


Anm.: Die Botschaft ist eindeutig: keine Pflege vertikal-autoritärer Kulte (Gurutum, elternartige Mentorenschaft, 'den Alten' etc.).


„Ich glaube, dass das Gesetz der Freiheit des nährenden Nervensystems ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger ist als das Gesetz des ungehinderten Blutkreislaufes.”( AT Still, StK, S. 131)

 

„In dieser einen Form findet Ihr alles repräsentiert, was Himmel und Erde enthalten, Verstand, Materie und Bewegung, vermischt mit der Weisheit Gottes.“ (AT Still, StK, S. 118)


Anm.: Im ersten der beiden Zitate wird deutlich, wie wesentliche Kompetenzen (Bewusstheit für vernetzten Austausch) in spezifische Kompetenzen (Fachwissen) übertragen werden. Beide Zitate belegen die Bewusstheit für hochkomplexe ('holistische') Zusammenhänge, die weit jenseits des therapeutischen Tellerrandes gehen. 

 

Anm.: Kein Zufall, dass bei der wissenschaftlichen Ausarbeitung von Stills Philosophie der Osteopathie durch Louisa Burns und J.M. Littlejohn die bereits integral interdisziplinär angelegte (Evolutions)biologie als Leitwissenschaft bei der Darlegung des grundsätzlichen Verständnisses von Krankheit und Gesundheit dient: 


[...] Krankheit ist kein Wesen! Tatsächlich wurden bestimmte Ansammlungen von Symptomen studiert und benannt, wodurch unser Wissen enorm erweitert wurde; dennoch entspricht es nicht der Wahrheit, dass etwas Reales existiert, das ‚Krankheit‘ heißt. Krankheitssymptome sind Ausdruck der Anstrengungen (Anm: des Organismus), um die eigene Existenz unter veränderten und anormalen Bedingungen zu erhalten. Gesundheit ist ebenso wenig ein eigenständiges Wesen; beide: Gesundheit und Krankheit sind nur abstrakte Ausdrücke, um bestimmte Zustände des Stoffwechsels zu beschreiben.“ (Louisa Burns, GP, S. 106)


„Daher ist die Osteopathie auch eine biologische Wissenschaft, weil die biologischen Zustände des Körpers wiederhergestellt werden müssen […]“ JM Littlejohn, LiK, S. 140)

 

Die Reihe sinngemäß vergleichbarer Zitate könnte beliebig weitergeführt werden ...

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Zusammenfassung:
 

  • Ob man die Zukunft aktiv mitgestaltet, hängt primär nicht von spezifischen Kompetenzen (Fachwissen, Techniken, Erfolge, Status etc.), sondern davon ab, ob die wesentlichen Kompetenzen (Weltbild, innere Haltung, Motivation etc.) zeitgemäß sind.
  • Für die aktive Mitgestaltung der aktuellen Informationsrevolution sind vernetzend-kooperative Kompetenzen zeitgemäß.
  • Die gegenwärtige Osteopathie zeigt diese Kompetenzen vorwiegend auf individual-klinischer, kaum aber auf institutioneller Ebene und ist damit nicht zukunftsfähig.
  • Die ursprüngliche Philosophie der Osteopathie besitzt, jene zeitgemäßen wesentlichen Kompetenzen, mit denen Osteopathie die Zukunft aktiv mitgestalten könnte

 

Schlussfolgerung:
 

Wendet man den Blick von den spezifischen und fokussiert auf die wesentlichen Kompetenzen, bildet die ursprüngliche Philosophie der Osteopathie eine solide Brücke, deren Bogen sich weit über der gegenwärtigen Osteopathie weit in die Zukunft spannt.

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Im letzten Editorial dieser Serie werde ich versuchen zu zeigen, welches Pensum zu leisten wäre, um die gegenwärtige Osteopathie wieder 'auf die Brücke' zu hieven und warum ein historisch-philosophisches Bewusstsein hierbei eine so wichtige Rolle spielt.

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Weiterführende Infos:
 

Eine umfassende Darlegung der ursprünglichen Philosophie der Osteopathie finden sie in folgenden Video-Modulen der Vortragsreihe Historisch reflektierte Osteopathie (Variante: HRO-EXPERT):

 

  • A.T. Stills Philosophie der Osteopathie (2.2.1. & 2.2.2.)
  • Wissenschaftliche John Martin Littlejohn (2.3.1. & 2.3.2)
  • Die erste Osteopathie-Schule & Geburtsfehler (2.4.)

 

Gesamtstreamingdauer: ca. 6,5 Std / Gesamtpreis: 49,50 € / Mietdauer: 30 Tage je Modul

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Und das war's auch schon wieder. 
Bis zum nächsten mal und wie immer ...

 

Viel Freude und Erfolg 
mit Ihrer Osteopathie!

 

Ihr

Christian Hartmann

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