Archiv: OT.NE.17.3
Autor: Christian Hartmann
Erstveröffentlichung: JOLANDOS-Newsletter. Editorial. April 2017.
Richtig zitieren?
Liebe Osteopathie-Liebhaber,
vom Philosophen und Kenner der Still-Texte Andreas Grimm habe ich gelernt, wie wichtig Begriffsklärung für die Osteopathie ist. Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel geben: Es geht um den von Still geprägten Begriff der Läsion und den in der modernen Osteopathie zentral verwendeten Begriff somatische Dysfunktion, der als (angebliche) Weiterentwicklung des Läsions-Begriffs gelehrt wird. Legen wir los:
Läsion
Folgende Definition habe ich nach einer Stichwortsuche ‚Läsion’ innerhalb sämtlicher mir zugänglicher literarischer Quellen Stills verfasst. Sie ist damit jederzeit überprüfbar:
Ursache im anatomischen Bereich, die über eine direkte oder indirekte Behinderung des freien Fließens der Körperflüssigkeiten zum Verlust von Gesundheit führt.
Wichtige Hintergrundinformationen hierzu:
-
Die indirekte Behinderung betrifft Irritationen vasoaktiver Nerven, v.a. im Bereich der Ganglien und auf Segmentebene.
-
Das freie Fließen der (physikalischen, nicht ‚fluidalen’) Körperflüssigkeiten ist (1) Grundlage für die Funktionsfähigkeit der Informationssysteme (2) im lebenden Organismus (stofflich-physikalisch = Blutkreislauf & interstitielle Zirkulation / nichtstofflich-physikalisch = Nervensysteme).
-
Diese Informationssysteme steuern die Entfaltung sämtlicher physiologischer Prozesse (3).
-
Der Entfaltungsgrad der physiologischen Prozesse bestimmt den Zustand eines lebenden Gewebes, Organs oder Menschen (gesund/krank) (4).
Somatische Dysfunktion
Hier die von mir aus dem Englischen übersetzte aktuelle Wikipedia-Definition:
„Beeinträchtigte oder veränderte Funktion kooperierender Komponenten des Körpers (Soma). Diese beinhalten: Skelett-, Gelenk- und myofasziale Strukturen und deren zugehörige vaskuläre, lymphatische und neuronale Elemente.“
Vergleichen Sie nun in aller Ruhe beide Definitionen, bevor Sie weiterlesen.
Fertig? Sind Ihnen folgende Unterschiede auch aufgefallen?
-
Stills Läsion bezeichnet eindeutig eine Ursache, die somatische Dysfunktion hingegen lediglich die Folge (veränderte Funktion und die davon betroffenen Strukturen) einer nicht benannten Ursache. Das hat enorme Konsequenzen: Wer somatische Dysfunktionen behandelt, behandelt somit unmittelbar symptomatisch – und damit nicht osteopathisch!
-
Stills Läsionsbegriff bezeichnet im Gegensatz zu seinem „Nachfolgebegriff“ ein von der Ursache bis zum Zustand logisch geschlossenes Gesundheits-/ Krankheitsmodell (1 => 2 => 3 =>4).
Stills Läsionsbegriff ist eher gesundheitsorientiert, da bei ihm das Primärmedium zur Entfaltung der Gesundheit im Fokus steht (fließende Körperflüssigkeiten). Bei der somatischen Dysfunktion stehen betroffene Gewebe im Fokus; dieser Begriff ist somit krankheitsorientiert.
Fazit
Der Begriff somatische Dysfunktion ist krankheitsorientiert und symptomatisch. Dennoch wird er in der osteopathischen Lehre zentral verwendet. Wen wundert’s, dass Philosophie in der ‚Mainstream’-Osteopathie einen schweren Stand hat… ;-)
In diesem Sinn …
Viel Freude und Erfolg auf Ihrer osteopathischen Reise!
Ihr