Archiv: OT.NE.21.5 Autor: Christian Hartmann
Erstveröffentlichung: JOLANDOS-Newsletter. Editorial. September 2021.
Richtig zitieren?
Liebe Freund*Innen der Osteopathie,
wir Menschen neigen dazu, Texte vorschnell zu interpretieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist Rene Descartes Aussage „Cogito ergo sum“ (1) (Ich denke, also bin ich.), aus dem frühen 17. Jhdt., das nicht selten als Motto für die frühe Aufklärung verwendet wird. Da wir in einer stark zweck-, ziel- und ich-orientierten Welt leben, assoziieren wir das ich denke unbewusst gerne mit einem selbstbewussten ich weiß. So deuten wir den Ausspruch gerne im Sinne von: Ich bin (wer), weil ich etwas weiß.
Kennt man aber den ganzen Satz des Originaltextes, erschließt sich plötzlich ein völlig neuer Sinn. Dieser Satz lautet „dubito, ergo sum, vel, quod idem est, cogito, ergo sum“. (1) (Ich zweifle, also bin ich, was gleichbedeutend ist mit ich denke, also bin ich.) Descartes setzte hier also das Denken mit dem Zweifeln gleich. Es ging ihm nicht um das Denkergebnis, sondern um den Prozess des Nachdenkens. Zudem steht dieser Satz im Kontext von Descartes Bemühungen einen Beweis für die eigene Existenz und nicht um einen Wert für das Ich zu finden. Der Sinn im größeren Kontext lautet demnach: Ich existiere, weil ich nachdenke. Vergleichen Sie dies mit der ersten Interpretation. Ich bin mir sicher, Sie erkennen den fundamentalen Unterschied zwischen beiden Aussagen.
Auch A.T. Stills Texte unterliegen häufig vorschnellen Interpretationen, die bei genauerer Betrachtung einen völlig neuen Sinn ergeben. Viele von Ihnen kennen vielleicht diesen Satz von ihm:
„Es ist ein aggressiver Feldzug für die Liebe, die Wahrheit und Menschlichkeit.“ (2) Still spricht hier von der Osteopathie und Vertreter der Osteopathie interpretieren diesen Satz häufig – ein wenig überspitzt formuliert – als ein äußeren Kampf des ‚Guten‘ (Osteopathie) gegen das ‚Böse ‘ (Schulmedizin). Nun lesen wir aber den Satz, der davor steht:
„Dieser Krieg wird nicht um Eroberung, Berühmtheit oder Macht geführt.“(2)
Still bestätigt mit dem Begriff Krieg tatsächlich, dass es um einen aktiven Kampf geht. Aber wer ist hier der Feind? Die Schulmedizin? Mitnichten. Es ist der eigene innere Wunsch nach Ruhm und Ehre, die Sehnsucht nach Bewunderung durch andere Menschen, einfach ausgedrückt: der eigenen Narzissmus und die eigene Eitelkeit, die der Wahrheit, der Liebe und v.a. der Menschlichkeit im Weg stehen. Nicht umsonst ermahnt Still die jungen Osteopath*innen nicht mit: "Werdet Heiler!", "Werdet reich!", "Werdet berühmt!", oder "Stellt euch zur Schau!". Er ermahnt sie nicht einmal mit "Behandelt eure Patienten erfolgreich!". Sein Ermahnung lautet schlicht: "Mensch, es geht um 'Erkenne dich selbst und sei in Frieden mit Gott!'"(3)
In diesem Sinne: Mögen die Zauberer und Verführer auf den Bühnen an der Osteopathie reich und berühmt werden, es sind die Unauffälligen, Neugierigen, Nachdenklichen und Großherzigen, die stets die Seele der Osteopathie waren und es auch immer bleiben werden. Sie, die in Frieden leben, sind die eigentlichen Soldaten des osteopathischen Feldzugs.
Mit Horst-Peter Schwerdtner ist vor wenigen Wochen einer von ihnen von uns gegangen. Für mich wird er in ganz besonderer Erinnerung bleiben. Nicht nur weil er zu den ersten Schulleitern gehörte, die mich – als Nicht-Osteopathen – einluden, mein Seminar zur Geschichte und Philosophie an seiner Schule zu unterrichten. Da war noch etwas anderes: Immer, wenn ich mit meinem JOLANDOS-Buchstand auf Kongressen war, an denen er auch teilnahm, wartete er in den Pausen still im Hintergrund, bis der große Ansturm vorbei war und alle wieder zu den Vorträgen und Kursen gegangen waren. Dann kam er an den Stand, blätterte in den Klassikern und wir unterhielten uns ein wenig. Dabei blickte er mich ab und zu mit seinem herzerfrischenden Schmunzeln und seinem kindlich-frechen Blick an. In diesen für mich so wertvollen Momenten war Stills "in Frieden mit Gott leben" in ihm spürbar. Ich empfand diese Momente immer, als würde mir für einen Augenblick der Blick tief in das Herz der Osteopathie gewährt. Schön, dass es solche Menschen noch gibt. Schön, dass es ihn gab.
Literarische Fußnote:
Horst-Peter besaß er eine enorm umfangreiche Bibliothek, mit vielen alten osteopathischen und medizinischen Klassikern. Er, der so Belesene, hatte aber lange Zeit selbst kein eigenes Buch veröffentlicht. Aus unseren Gesprächen wusste ich aber, dass er seit vielen Jahren über Kinderosteopathie schreiben wollte. Zu unserem Glück konnte er dieses Projekt 2020 noch verwirklichen. Mit Für die Seelen unserer Kinder bleibt er und seine große Menschlichkeit allen Interessierten damit auch weiterhin ein wenig erhalten.
Quellennachweise:
(1) Adam, Charles; Tannery, Paul, eds., “La Recherche de la Vérité par La Lumiere Naturale”, Oeuvres de Descartes. 1901, X, p. 535.
(2) Still, Andrew T., Hartmann C. (Hrsg). Das große Still-Kompendium. JOLANDOS Verlag, Pähl, 2005. S. I–145.
(3) Booth E., Hartmann (Hrsg). Erinnerungen an Andrew Taylor Still. JOLANDOS Verlag, Pähl, 2016. S. I–122.
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Bis zum nächsten JOLANDOS-Newsletter und wie immer…
… viel Freude und Erfolg auf Ihrer osteopathischen Reise!
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