Archiv: OT.FA.12.1
Autor: Christian Hartmann
Erstveröffentlichung: Osteopathische Medizin. 2012, 3: 28–30.
Gekürzte Version im Originalarikel. Hier erstmals die volle Version!
Richtig zitieren?
Zusammenfassung
Die im vorliegenden Beitrag besprochene Studie untersucht die Interaktionen zwischen exterozeptiven und interozeptiven Afferenzen.[1] Als eines der Ergebnisse zeigte sich, dass die Inselregion im Gehirn aus beiden Reizkategorien nicht nur eine Körperrepräsentation[2], sondern offensichtlich auch eine Art Raumrepräsentation (“peripersonal space”) generiert. Als Nebenergebnis zeigte sich, dass die vegetative Kontrolle einzelner Körperbereiche davon abzuhängen schien, inwieweit die Körperrepräsentation in die dazugehörige Raumrepräsentation projiziert wurde.
Ziel der Behandlung nicht strukturell bedingter vegetativer Dysfunktionen ist demnach die Verbesserung der zentralen Integration extero- und interozeptiver Reize, d.h. die Körperwahrnehmung als Ganzes. Da es sich um interne Integrationsprozesse handelt, die direkten Techniken nicht zugänglich sind, können Behandlungsansätze maximal die Rahmenbedingungen für die besagten Prozesse verbessern. Hier empfehlen sich v.a. sanfte und indirekte Techniken der salutogenetisch orientierten Osteopathie.
Vorüberlegungen
Wissenschaft und Spiritualität folgen demselben Ideal: Wahrheitssuche. Auf ihr basiert ein Großteil der menschlichen Entwicklung, sowohl im physischen als auch im metaphysischen Kontext. Essenzielle Bedingung für diese Suche ist die Fähigkeit zur intellektuellen Aufrichtigkeit.[3] Aus ihr ergeben sich zwei Prämissen:
-
Es ist zu jeder Zeit an jedem Ort und für jede Person falsch, etwas aufgrund unzureichender Beweise zu glauben.
-
Es ist zu jeder Zeit an jedem Ort und für jede Person falsch, für die eigenen Überzeugungen relevante Beweise zu ignorieren oder sie leichtfertig abzuweisen. (1)
Bemüht man sich, diese Prämissen auf seiner Suche einzuhalten, ist das nicht leicht, oder wie Nietzsche sagt:
“Wo meine Redlichkeit aufhört, bin ich blind und will auch blind sein. Wo ich aber wissen will, will ich auch redlich sein, nämlich hart, eng, grausam, unerbittlich.” (11)
Auch wenn der persönliche Preis dabei hoch erscheint, im historischen Kontext hatte man damit langfristig die besten Entwicklungs- bzw. Überlebenschancen. Sehen Sie sich um: Fast alles von Menschen Geschaffene wurzelt in Wissenschaft und Spiritualität. Will Osteopathie langfristig überleben, muss sie sich also im Licht der Natur- und Geisteswissenschaften und im Geist der intellektuellen Aufrichtigkeit spiegeln. In diesem Sinne ist der vorliegende Artikel zu verstehen. Lassen Sie sich in Ihrer Arbeit inspirieren und bestärken, aber auch erschüttern und infrage stellen.
Untersuchungen zur Exterozeption und Interozeption
Die moderne Kognitionsforschung zeigt, dass unsere Ich-Wahrnehmung stark vom Meinigkeitsgefühl[4] abhängt, das sich seinerseits eng mit der Exterozeption verknüpft zeigt (7). Im Rahmen dieser Forschung wurde der GHV[5] entwickelt. Als Nebeneffekt wurde dabei eine Abkühlung der unsichtbaren rechten Hand unter dem Tisch beobachtet. Da die vegetative Steuerung des Körpers auch maßgeblich von der Interozeption abhängt, vermutete man eine Relation zwischen Intero- und Exterozeption. Das Forscherteam um Tsakiris widmete sich nun der Quantifizierung dieser Relation. (12) Als Studiengruppe wurden 46 neurologisch unauffällige Frauen im Durchschnittsalter von 21,5 Jahren (Standardabweichung: 2,8 Jahre) gewählt. Die interozeptive Sensitivität wurde über den standardisierten Herzschlag-Monitoring-Test[6] ermittelt (HMT; Reliabilität 81%), wohingegen man den exterozeptiv vermittelten Integrationsgrad fremder Körperteile in die eigene Körperwahrnehmung mit dem Gummihandversuch (GHV) quantifizierte.
Die Ergebnisse wurden in Relation zueinander gesetzt, um eine gegenseitige Abhängigkeit zu ermitteln. Als Hauptergebnis zeigte sich ein deutlich signifikanter Zusammenhang zwischen Interozeption und Exterozeption, d.h. Probanden mit höherer interozeptiver Sensitivität integrierten die falsche Hand signifikant schlechter. Dieses Ergebnis wurde auch noch mit dem o.a. vegetativen Phänomen der Abkühlung der verborgenen rechten Hand in Verbindung gebracht, woraus sich quasi als Nebenergebnis das Erklärungsmodell des “peripersonal space” ergab. Demnach generiert die Inselregion im Gehirn aus interozeptiven und exterozeptiven Afferenzen nicht nur eine Körperrepräsentation, sondern darüber hinaus offensichtlich auch eine Art virtuellen Raum. Die vegetative Kontrolle einzelner Körperbereiche scheint nun den Ergebnissen der Studie zufolge davon abzuhängen, inwieweit das Gehirn die Repräsentationen der einzelnen Körperabschnitte in diesen virtuellen Raum projiziert.(13)
Osteopathischer Bezug
Die Arbeit belegt, dass die vegetative Versorgung des Körpers maßgeblich von Prozessen in der Inselregion abhängt. Die Wirkmechanismen osteopathischer Techniken bei funktionell bedingten vegetativen Dysfunktionen (z.B. “Sudeck”) sind demnach eher auf eine positive Beeinflussung der komplexen Interaktionen in der Inselregion und weniger auf extrazerebrale Wirkmechanismen zurückzuführen. Demnach sind osteopathische Konzepte, die bei entsprechenden Beschwerdebildern ausschließlich extrazerebrale, allen voran rein biomechanische Wirkmechanismen in den Vordergrund stellen, falsch und müssen konsequenterweise fallengelassen werden.[7]
Da eine hohe interozeptive Sensitivität, d.h. ein hohes Maß an Körperwahrnehmung, die vegetative Versorgung des Körpers zu optimieren scheint und insbesondere sanfte Berührungen eine verbesserte Körperwahrnehmung durch Bahnung der interozeptiven C-Fasern begründen, sind neben sanften Techniken in der Peripherie allen voran kraniosakrale Techniken (unabhängig von ihrem nachweisbaren Wirkmechanismus), allein aufgrund der hohen Intensität an Sanftheit sowie der Nähe zu den benannten zerebralen Prozessen, erste therapeutische Wahl bei vegetativen Dysfunktionen.
Die für die vegetative Versorgung des Körpers offensichtlich bedeutsamen hochkomplexen zerebralen Prozesse in der Inselregion und die Tatsache, dass wir diese nicht unmittelbar beeinflussen können, zwingen uns zu der Einsicht, dass es keine Techniken geben kann, mit denen entsprechende Beschwerdebilder direkt beeinflusst werden können. Mit anderen Worten: Der Beitrag bestärkt die klassische osteopathische Feldtheorie, wonach osteopathische Techniken niemals direkt heilenden Charakter haben, sondern immer nur der Verbesserung der Rahmenbedingungen dienen (hier z.B. zur Schulung der Körperwahrnehmung), innerhalb derer dann der Heilungsprozess automatisch abläuft (hier: vegetative Regulierung).
Aus diesem Punkt folgt auch, dass bei nicht strukturell bedingten vegetativen Dysfunktionen pathogenetisch orientierte Behandlungsansätze durch salutogenetische Ansätze, z.B. Osteopathie, ersetzt werden müssen.
Allein durch die wissenschaftlich nachgewiesene Verbindung Körperwahrnehmung – Meinigkeitsgefühl – Ich-Gefühl – Ich-Wertigkeit kann man vermuten, dass das Selbstwertgefühl eines Menschen allein durch eine verbesserte Körperwahrnehmung, etwa durch eine sanfte osteopathische Behandlung, positiv beeinflusst werden kann.
Mögliche Fehlinterpretationen des Beitrags:
-
Periphere Techniken sind bei vegetativen Dystrophien nutzlos.
-
Kraniosakrale Techniken sind bei vegetativen Dysfunktionen anderen Techniken immer überlegen.
-
Das Phänomen eines “peripersonal space” beweist die Existenz und die Bedeutung einer “Aura”.
-
Mit dem Phänomen des “peripersonal space” wurde die Existenz einer Aura in der esoterischen Ausdeutung widerlegt.
-
Osteopathische Behandlungen verbessern immer das Selbstwertgefühl.
Ausblick
Im nächsten Artikel gehe ich ausführlich auf eine Studie zum “peripersonal space” ein: Körperillusionen in Gesundheit und Krankheit: Physiologische und klinische Perspektiven und das Konzept der “body matrix” (Moseley et al.)
Literatur
(1) Clifford W.K.: Erstveröffentlichung in Contemporary Review, 1877. Nachdruck in Lectures and Essays (1879). Aktuell in The Ethics of Belief and Other Essays, Prometheus Books, New York, 1999.
(2) Farb N.A. et al.: Mindfulness meditation training alters cortical representations of interoceptive attention. Soc Cogn Affect Neurosci, 2012: PMID 22689216.
(3) Hadjidimitrakis K. et al.: Three-dimensional eye position signals shape both peripersonal space and arm movement activity in the medial posterior parietal cortex. Frontiers in integrative neuroscience, 2012, 6: 37.
(4) Hartmann C.: Klassische Osteopathie: Eine Feldtheorie als Vorbild und Grundlage. Osteopathische Medizin, 2011, 2: 14–18.
(5) Hartmann C.: Neubewertung der klassischen osteopathischen Feldtheorie am Beispiel von Perzeption und Wahrnehmung. Osteopathische Medizin, 2011, 3: 8–2.
(6) Katzer A., et al.: Tactile Perceptual Processes and Their Relationship to Somatoform Disorders. J Abnorm Psychol, 2012.
(7) Littlejohn J.M.: Psychophysiologie. JOLANDOS Verlag, Pähl, 2008.
(8) Metzinger T.: Der Ego-Tunnel. BVT, Berlin, 2010.
(9) Morrison I. et al.: The skin as a social organ. Exp Brain Res, 2010, 204 (3): 305–314.
(10) Moseley G.L. et al.: Bodily illusions in health and disease: Physiological and clinical perspectives and the concept of a cortical body matrix
. Neuroscience and Biobehavioral Reviews, 2012, 36 (1): 34–46.
(11) Nietzsche F.: Also sprach Zarathustra. Insel Verlag, Leipzig, 1908.
(12) Schaefer M et al.: Is Interoceptive Awareness Really Altered in Somatoform Disorders? Testing Competing Theories With Two Paradigms of Heartbeat Perception. J Abnormal Psychol, 2012; PMID 22642840.
(13) Tasakiris M et al.: Just a heartbeat away from one’s body: interoceptive sensivity predicts malleability of body-representation. Proc R Soc B, 2011, 278: 2470–2476.
Der Text ersetzt keine therapeutische Konsultation. Der Autor des Artikels ist für keinen Schaden verantwortlich, der aus der Anwendung von Informationen aus diesem Artikel entstehen sollte.
© Christian Hartmann, 2017
Fußnoten
-
Interozeption: Körperwahrnehmung aufgrund innerer Afferenzen, speziell des physiologischen Körperstatus. Exterozeption: Körperwahrnehmung aufgrund äußerer Afferenzen, z.B. Wärme, Berührung, etc. ↩
-
Repräsentation bedeutet im medizinischen Kontext das mentale Verfügbarmachen eines durch interne oder externe Afferenzen vermittelten Phänomens. Alles, was Sie gerade sehen, ist beispielsweise eine mentale Repräsentation, die gerade in Ihrer Sehrinde generiert und generell verfügbar, d.h. dem Bewusstsein zugänglich gemacht wird. Dies gilt auch für alle Emotionen oder Gedankenprozesse, die damit verbunden sind. Im Grunde basiert demnach jede bewusste Wahrnehmung auf inneren, d.h. rein subjektiven Repräsentationsprozessen. Daraus folgt, dass die physikalische Wirklichkeit theoretisch zwar objektiv messbar, aber ausschließlich subjektiv wahrnehmbar ist. Dieses Prinzip der ausschließlichen Subjektivität gilt selbstverständlich auch für die Wahrnehmung, Auswertung und Interpretation objektiver Messergebnisse. ↩
-
Der Begriff wurde von Thomas Metzinger, einem der international führenden Neurophilosophen, ins Zentrum seiner Kognitionsforschung gestellt. ↩
-
Die Wahrnehmung einer Körperregion oder des gesamten Körpers als “meins”. ↩
-
Beim Gummihandversuch (GHV) sitzt der Proband am Tisch, wobei die linke Hand hinter einer Sichtblende auf dem Tisch ruht. Die rechte Hand liegt unsichtbar unter dem Tisch auf dem rechten Oberschenkel und wird auf dem Tisch durch eine “falsche” Hand aus Gummi ersetzt. Der Proband sieht also nur die falsche rechte Hand. Echte linke und falsche rechte Hand werden nun simultan stimuliert. Nach einiger Zeit wird die Reizung der echten Hand eingestellt und gemessen, inwieweit der Proband die Stimulation der falschen Hand als echt wahrnimmt. Hieraus kann man ermitteln, inwieweit aufgrund exterozeptiver Informationen falsche Körperbereiche in die Körperwahrnehmung integriert werden. ↩
-
Beim HMT wird der Pulsschlag mittels eines Fingersensors dokumentiert. Zugleich bestimmt der Proband die Anzahl seiner Herzschläge in bestimmten Zeiträumen lediglich durch Innenwahrnehmung, d.h. ohne Palpation des Pulses (mental tracking method). Das Verhältnis der Ergebnisse zueinander bezeichnet dabei die interozeptive Sensitivität. Dies entspricht in etwa dem, was man unter “Körpergefühl” versteht. ↩
-
Bereits um 1900 herum beschreibt John Martin Littlejohn (1866–1947), einer der osteopathischen Gründerväter, die überragende Bedeutung der Afferenzen auch und vor allem für mentale Prozesse. Damit steht er fest in der Tradition „Mens sana in corpore sano“ (Ein gesunder Geist ist in einem gesunden Körper). ↩